Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
fuhr Michael Kühnen mit seinem Auto vor. Als er sah, was sich im »Holzwurm« abspielte, gab er sofort Gas und verschwand. Der Zwei-Meter-Mann stand wie ein Fels in der Schlacht. Er hatte schon die meisten unserer Leute niedergeschlagen. Jetzt kam der Riese langsam auf mich zu. Ich stand zusammen mit Frank Lutz an der Bar. Frank gab mir einen kräftigen Stoß, so daß ich dem Riesen entgegenflog und mit ihm gemeinsam über einen Tisch stürzte. Glücklicherweise landeten wir so auf dem Boden, daß ich auf den Mann zu liegen kam. Es gelang mir, ihm meinen Ellenbogen auf den Kehlkopf zu drücken, so daß ihm die Luft zum Atmen genommen war.
In diesem Augenblick erschien endlich die Polizei in der Tür. Die beiden Beamten verteilten in aller Seelenruhe die Visitenkarten ihres Reviers: »Wenn jemand Anzeige erstatten möchte, wissen Sie, wo wir zu finden sind.« Der Riese verließ das Lokal mit blutüberströmtem Gesicht, begleitet von seiner jetzt hinkenden Frau. Es war eine Szene wie im Western.
Ich ging mit Frank Lutz zur Bar und bestellte beim Wirt zwei Bier. Der schüttelte grinsend den Kopf: »Und wo soll ich das Bier hineingießen, ich hab ja keine Gläser mehr? Vielleicht wäre es jetzt doch besser, ihr würdet gehen?«
Auf der Heimfahrt nach Berlin ging ich mit ein paar Freunden in den Speisewagen. Frank Lutz hatte eine aufgeschlagene Lippe, Göring fehlte ein Schneidezahn, ich hatte am rechten Auge ein gewaltiges Veilchen, und das weiße Hemd von Friedhelm, der stets das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse auf der Brust trug, war zerrissen und blutbeschmiert. Alle Fahrgäste verließen bei unserem Anblick sofort das Abteil.
Das nächste Gautreffen, Anfang April, verlief etwas weniger spektakulär.
Führende Leute
Auf einer sechsstündigen Eisenbahnfahrt von Hamburg zum Führungstreffen nach Fulda, wohin ich allein mit Michael Kühnen fuhr, teilte Kühnen mir mit, daß ich für den Vorsitz der »Deutschen Alternative« in der DDR vorgesehen sei. Er selbst könne diesen Posten nicht übernehmen. Er gab mir auch zu verstehen, daß es nun langsam an der Zeit sei, konkrete Aktionen auf dem Boden der DDR folgen zu lassen. Als ich ihn fragte, was er damit meint, erklärte er, daß nationalsozialistische Aussprüche und Zeichen auf jüdischen Friedhöfen, die Zerstörung von sozialistischen Denkmälern und Angriffe auf Asylbewerberheime in den Medien für Schlagzeilen sorgen würden. Man sähe: Wir sind da. Solche Vorkommnisse wären für die Entwicklung der Sache sicher nicht das Schlechteste.
Zum Gauleitertreffen in Fulda war ich in meiner Eigenschaft als Gebietsleiter Ost eingeladen worden. Ich traf dort zum erstenmal auf Michael Swierczek von der inzwischen verbotenen »Nationalen Offensive« und auf die beiden Österreicher Gottfried Küssel und Günther Reinthaler. Thomas Wulff (»Nationale Liste« Hamburg), Nero Reisz (»Deutsches Hessen«), Christian Worch und einige andere mir bekannte Neonazis waren ebenfalls anwesend. Auf diesem Treffen wurde beschlossen, sich intensiv um die noch immer in DDR-Gefängnissen inhaftierten ehemaligen SS-Angehörigen zu kümmern. Auch der Leiter der »Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene«, deren Arbeit schon seit Jahren inhaftierten alten und neuen Nazis gewidmet ist, war bei diesem Treffen zugegen. Die HNG hat ihren Einfluß inzwischen verstärkt. Sie kümmert sich auch intensiv um unpolitische Gefangene, um unter denen neue Mitglieder für rechtsradikale Organisationen zu werben.
Michael Kühnen
Kühnen galt in Westdeutschland jahrelang als der »Führer der Bewegung«. Er starb am 25. April 1991 an AIDS. Sein offenes Bekenntnis zur eigenen Homosexualität und sein Tod haben das neonazistische Lager gespalten wie nie zuvor. Ein Nachfolger für Kühnen hat sich noch nicht herauskristallisiert.
Ich lernte Kühnen im Januar 1990 in Hamburg-Bergedorf in der Wohnung eines »Kameraden« kennen. Kühnen wollte nur kurze Zeit bleiben, daraus wurden dann mehr als zwölf Stunden. Kühnen verstand es glänzend, Menschen zu begeistern. Er hatte Eigenschaften, die für die »Szene« absolut untypisch waren. Er konnte Privates und Politisches sehr gut voneinander trennen, und man hatte nie das Gefühl, er habe eine vorgefaßte Meinung. Er war nicht verbohrt oder in seiner Haltung festgefahren, wie seine Anhänger Küssel und Worch. Er hatte die Fähigkeit, sich auf die unterschiedlichsten Menschen einzustellen. Seine Sensibilität und seine Flexibilität
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