Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
zurück.
Wahrscheinlich hatte weder der Pole Strafanzeige gestellt noch der Volkseigene Betrieb, eine Firma, die es vielleicht schon gar nicht mehr gab, den Verlust seines Omnibusses gemeldet.
Als die Vernehmungen beendet waren, fuhr uns die Polizei auf einem LKW zum nächstliegenden Bahnhof. Dort sprangen wir mit unseren Nazifahnen von der Ladefläche und nahmen den nächsten Zug, um unbehelligt und ohne Fahrkarten zurück nach Berlin zu gelangen.
Totengräber Friedhelm
Friedhelm Wander, ein dreiundzwanzigjähriger Totengräber, verbirgt unter seiner militärischen Kleidung fast immer irgendeine Waffe. Schon zu DDR-Zeiten verbüßte Wander wegen illegalen Waffenbesitzes eine dreijährige Haftstrafe. Als der Richter ihn während der Gerichtsverhandlung nach seinem Vorbild fragte, antwortete er, ohne zu zögern: »Heinrich Himmler, Chef der SS.« Wander erhielt den Paragraphen 15, der ihm Unzurechnungsfähigkeit bescheinigte. Während seines Gefängnisaufenthaltes erhängte sich der Vater, und so lebt Wander heute allein mit seiner Mutter in einer Dreizimmerwohnung in Berlin.
Auf sein Äußeres legt er sehr wenig Wert. Da er sich höchstens einmal im Monat wäscht, riecht er sehr streng. »Im Krieg konnte man sich auch nicht ständig waschen!« lautet einer seiner Sprüche. Wenn er sich allerdings wäscht, dann gestaltet sich dieses Ereignis für ihn zu einer regelrechten Zeremonie. Er packt all seine alten Etuis aus, die vor ihm schon SS-Soldaten verwendet haben.
Friedhelm Wander benutzt mit Vorliebe Gegenstände, die Toten gehört haben. Er ist ein glühender Verehrer der SS und in jeder freien Minute in den Wäldern um Halbe zu finden, wo die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkriegs stattgefunden hat. Er behauptet, dort die Stimmen der toten Soldaten zu hören. Er gräbt nach den Habseligkeiten und Waffen der Gefallenen, aber auch deren körperliche Reste fördert er ans Tageslicht. Er nimmt ihnen die Orden ab, die Kleidung und die Stiefel. Obwohl alles schon bald fünfzig Jahre unter der Erde liegt, ist manches Kleidungsstück für ihn noch brauchbar. »Wenn du die Sachen einmal wäschst, kannst du sie wieder benutzen.« In unserem Haus in der Weitlingstraße wollte er eine SS-Einheit gründen, geriet aber mit dem SA-Fan Oliver Schweigen aneinander. Darüber bekamen die beiden immer wieder Streit. Eines Tages ging Wander in Schweigerts Zimmer und malte um die nebeneinanderhängenden Porträts von Röhm und Kühnen ein rotes Herz auf die Wand. Für Wander war die SA nichts als ein Haufen Homos. Schweigert verlor die Fassung und warf Wander aus dem Haus. »Dafür lege ich dich eines Tages um!« schrie Wander, als er ging. Aber nach ein paar Wochen war Wander wieder da. Wander ist unberechenbar. Er konnte eine Stunde lang auf einem Bierkasten sitzen, ihn dann packen und aus dem Fenster werfen. Ich erlebte es häufig, daß ihn irgend jemand in der Straßenbahn anstarrte. Dann ging Wander hin, zog ihn an der Nase hoch und fragte, ob er ein Problem habe.
Wenn wir zum Kriegsspiel in den Wald zogen, hatte er seine große Stunde. Er gab die Befehle. Einmal warf er eine Panzerfaust in einen See, und Hunderte von Fischen flogen durch die Luft.
Im Alltag trägt er ständig eine abgesagte Pump-action unter seiner Armeejacke. Er hat von den Russen Unmengen von Granaten und andere Waffen gekauft, die er für den »Ernstfall« irgendwo versteckt hält.
Einmal fuhr er mit österreichischen Besuchern und Reinthaler in die von Autonomen besetzte Mainzer Straße. In aller Ruhe holte er eine geladene Panzerfaust unter dem Sitz hervor und richtete sie auf eins der Häuser. Nur mit Mühe gelang es Reinthaler, ihn davon abzuhalten, sie abzufeuern.
Nachdem wir die Weitlingstraße geräumt hatten, versuchte Friedhelm Wander sein Glück bei der Fremdenlegion. Er bestand darauf, in seiner geliebten SS-Uniform zu kämpfen. Die Legion nahm ihn nicht, auch wegen seines langen Vorstrafenregisters.
Als er mich das letzte Mal besuchte, traf er mich nicht an. Er entdeckte im Erdgeschoß eine ältere Frau beim Geschirrspülen. »Los, aufmachen!« herrschte er sie an und hielt die Pump-action durchs offene Fenster. Die Frau gehorchte, ohne ein Wort zu sagen. Nach diesem Vorfall war ich für die Mieter in meinem Hause Luft.
Silvester kann man Friedhelm Wander in den Wäldern um Halbe treffen, er zündet dort Kerzen für die Gefallenen an. Besser ist es aber, ihm dann nicht zu begegnen.
»Ritterkreuzträger« Otto Riehs
In Halbe
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