Die achte Karte
sie von Victor Constants Visitenkarte her kannte und sich eingeprägt hatte.
Sie drückte ein Auge an den Spalt zwischen Tür und Rahmen, und im selben Moment öffnete Marieta die Tür von innen und kam mit dem leeren Tablett heraus.
Beide kreischten vor Schreck auf.
»Madomaisèla!«
Léonie schloss die Tür, damit Anatole nicht auf sie aufmerksam wurde. »Du hast bestimmt nicht gesehen, ob irgendwelche Briefe aus Carcassonne dabei waren, nicht wahr, Marieta?«, fragte sie.
Das Hausmädchen sah sie fragend an. »Ist mir nicht aufgefallen, Madomaisèla.«
»Bist du sicher?«
Jetzt blickte Marieta sichtlich verwirrt. »Es sind nur die üblichen Zirkulare gekommen, ein Brief aus Paris für Senhér Anatole und je ein Brief für Ihren Bruder und Madama von unten aus der Stadt.«
Léonie seufzte erleichtert und ein klein wenig enttäuscht auf.
»Einladungen, nehme ich an«, fügte Marieta hinzu. »Ganz edle Umschläge, in einer sehr eleganten Schrift adressiert. Ein prächtiges Familienwappen war auch drauf. Pascal hat gesagt, ein Bote hat sie gebracht. Ein komischer Bursche in einem alten Umhang.«
Léonie horchte auf. »Welche Farbe hatte der Umhang?«
Marieta schaute sie verwundert an. »Das weiß ich nun wirklich nicht, Madomaisèla. Hat Pascal nicht gesagt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …«
»Natürlich.« Léonie machte einen Schritt rückwärts. »Ja, natürlich.« Sie zögerte einen Moment auf der Türschwelle und konnte sich selbst nicht erklären, warum der Gedanke an die Gesellschaft ihres Bruders sie auf einmal so nervös machte. Es war doch nur ihr schlechtes Gewissen, das sie vermuten ließ, diese Briefe könnten irgendetwas mit ihr zu tun haben. Weiser Rat, das wusste sie, aber trotzdem war ihr unbehaglich zumute.
Sie drehte sich um und sprang leichtfüßig die Treppe hinauf.
Kapitel 75
∞
A natole saß am Frühstückstisch und starrte ausdruckslos auf den Brief.
Seine Hand zitterte, als er sich eine dritte Zigarette an der Glut der zweiten anzündete. Die Luft in dem geschlossenen Raum war verqualmt. Auf dem Tisch lagen drei Umschläge. Einer – ungeöffnet – war in Paris abgestempelt worden. Die anderen beiden trugen ein Wappen im Prägedruck, wie die, die im Schaufenster des Graveurs Stern ausgestellt waren. Ein Bogen Briefpapier mit demselben aristokratischen Familienemblem lag auf dem leeren Teller vor ihm.
In Wahrheit hatte Anatole gewusst, dass so ein Brief ihn eines Tages erreichen würde. Ganz gleich, wie sehr er versucht hatte, Isolde zu beruhigen, seit dem Überfall in der Passage des Panoramas im September hatte er damit gerechnet. Die höhnische Mitteilung, die sie vor einer Woche in dem Hotel in Carcassonne erreicht hatte, war lediglich die Bestätigung dafür gewesen, dass Constant ihr Manöver durchschaut und, schlimmer noch, dass er sie aufgespürt hatte.
Anatole hatte zwar stets versucht, Isoldes Ängste zu beschwichtigen, doch alles, was sie ihm über Constant erzählt hatte, steigerte seine Bedenken, wozu dieser Mann fähig sein mochte. Das Muster von Constants Krankheit und die Art der Krankheit, seine Neurosen und Wahnvorstellungen, sein unbeherrschtes Temperament, all das kündete von einem Mann, der alles tun würde, um sich an der Frau zu rächen, von der er sich betrogen fühlte.
Wieder blickte Anatole auf den förmlichen Brief in seiner Hand, der ausnehmend beleidigend und zugleich vollkommen höflich und korrekt war. Victor Constant forderte ihn für morgen, Samstag, den 31 . Oktober, bei Einbruch der Dämmerung zum Duell. Constant hatte entschieden, dass sie mit Pistolen kämpfen sollten. Er überließ es Vernier, einen geeigneten Austragungsort auf dem Boden der Domaine de la Cade vorzuschlagen – privater Grund und Boden, so dass ihr illegaler Zweikampf ohne unerwünschte Beobachter stattfinden konnte.
Er schloss mit der Mitteilung, dass er im Hôtel de la Reine in Rennes-les-Bains wohne und von Vernier die Antwort erwarte, dass er ein Ehrenmann sei und die Herausforderung annehme.
Nicht zum ersten Mal bedauerte Anatole den Impuls, der seiner Hand auf dem Cimetière de Montmartre Einhalt geboten hatte. Er hatte Constants Anwesenheit auf dem Friedhof gespürt, und es hatte ihn seine ganze Selbstbeherrschung gekostet, sich nicht umzudrehen und ihn gleich dort zu erschießen, kaltblütig, ungeachtet der Folgen. Heute Morgen dann, beim Öffnen des Briefes, war sein erster Gedanke gewesen, hinunter in die Stadt zu fahren und Constant in
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