Die Akte Nr. 113
schon längst aufgeklärt.
Übrigens scheinen Sie ja bekannt mit ihm zu sein.«
»Ich habe ihn früher nie gesehen.«
»Das läßt sich schwer behaupten,
denn sehen Sie, ich glaube, es gibt keinen einzigen Menschen, der sich
rühmen kann, Herrn Lecoqs wahres Gesicht gesehen zu haben.
Heute ist er blond und morgen braun, bald ist er ein Jüngling,
bald ein hundertjähriger Greis. Ich bin schon auf meiner Hut
und doch führt er mich jedesmal an. Ich plaudere zum Beispiel
mit einem Unbekannten, den ich nie im Leben gesehen zu haben vermeine,
und plötzlich ist es Herr Lecoq. Er kann sich verkleiden und
verstellen, wie er will, und wenn er sich nicht freiwillig zu erkennen
gibt, erkennt ihn keiner, nicht einmal seine eigene Mutter!«
Prospers Führer würde noch lange
forterzählt haben, wenn sie nicht angelangt wären.
Der Untersuchungsrichter erwartete diesmal Prosper, und so wurde er
gleich vorgelassen.
Pertingent hatte dem alten Bertomy die Erlaubnis gegeben,
seinen Sohn zu besuchen, weil er viel von der Unterredung des
rechtschaffenen Vaters mit dem des Diebstahls angeklagten Sohn
erwartete. Als Menschenkenner sagte er sich, daß ein
erschütternder Auftritt stattfinden würde und diese
Erschütterung müsse notwendig den starren Sinn
Prospers erweichen, ihn geneigt machen, ein Geständnis
abzulegen, und darum ließ er ihn sogleich nach der Unterredung
zum Verhör vorführen.
Er war über die Haltung des Kassierers, die ihm
geradezu herausfordernd erschien, nicht wenig erstaunt.
»Nun, haben Sie es sich überlegt?«
»Ich hatte nichts zu überlegen, da ich nicht
schuldig bin.«
»O, verschlimmern Sie Ihre Lage nicht, nur
Aufrichtigkeit und Reue können Ihnen die Nachsicht der Richter
erwerben.«
»Ich bedarf weder der Nachsicht noch der
Gnade.«
Herr Pertingent konnte eine ungeduldige Gebärde nicht
unterdrücken. Er schwieg eine Weile, dann fragte er
plötzlich: »Was würden Sie antworten, wenn
ich Ihnen sagte, was aus den 350 000 Frank geworden ist?«
Aber die List – ein Mittel, das die
Untersuchungsrichter häufig mit Erfolg anwenden –
verfing nicht. Prosper schüttelte traurig den Kopf und
antwortete: »Wenn man es wüßte,
wäre ich nicht hier, sondern frei.«
»Sie bleiben also dabei, Ihren Chef des Diebstahls zu
bezichtigen?«
»Ich muß es wohl, da nur er das Stichwort
kannte. Freilich zerbreche ich mir vergebens den Kopf, welches
Interesse er daran haben konnte, sich selbst zu bestehlen?«
»Allerdings hat er keines gehabt, aber ich kann Ihnen sagen, welches Interesse Sie hatten.
Können Sie mir vielleicht mitteilen, wieviel Sie im letzten
Jahre ausgegeben haben?«
»Ja,« entgegnete Prosper ohne
Zögern, »ich habe über meine Ausgaben Buch
geführt, es werden ungefähr 50 000 Frank
sein.«
»Und wo haben Sie die hergenommen?«
»Ich besaß 12 000, die ich von meiner Mutter
geerbt hatte, 14 000 beträgt mein Gehalt, an der
Börse gewann ich 8000, das übrige bin ich noch
schuldig, kann es aber bezahlen, da ich bei Herrn Fauvel noch 15 000
Frank stehen habe.«
»Wer lieh Ihnen das Geld?«
»Herr von Lagors.«
»Schön, aber nun sagen Sie mir, warum Sie
das Geld, dem ausdrücklichen Befehl Ihres Chefs entgegen, am
Vortag holen ließen?«
»Herr von Clameran wünschte das Geld gleich
früh zu haben – das wird er Ihnen, wenn Sie ihn
rufen lassen, selbst bestätigen. Anderseits fürchtete
ich, daß ich an jenem Tage etwas verspätet ins Bureau
kommen könnte.«
»Sind Sie mit Herrn von Clameran befreundet?«
»Nein, ich habe vielmehr eine, wie ich gestehen
muß, durch nichts gerechtfertigte Abneigung gegen ihn, aber es
ist ein guter Bekannter meines Freundes Raoul von Lagors.«
Nach einer Pause fragte der Untersuchungsrichter weiter:
»Wie haben Sie den Abend, der dem Diebstahl voranging,
zugebracht?«
»Ich verließ um fünf Uhr das Bureau
und fuhr mit dem Zuge nach Saint Germain, um meinen Freund Raoul in
seinem Landhause in Besinet aufzusuchen. Er hatte 1500 Frank von mir
zurückverlangt und ich brachte ihm das Geld, das ich ihm
schuldete; da er nicht anwesend war, übergab ich es seinem
Diener.«
»Sagte man Ihnen, daß Herr von Lagors
verreisen werde?«
»Nein, ich wußte nicht einmal, daß
er in Paris ist, sonst wäre ich ja nicht aufs Land
hinausgefahren.«
»Was taten Sie, als Sie Besinet
verließen?«
»Ich kehrte nach Paris zurück, traf einen
Bekannten und ging mit ihm in ein Boulevardrestaurant
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