Die Amazonen von Darkover
daß sich diese Gabe fast immer erst in den Entwicklungsjahren zeigte, selten vorher, und daß sie dann gebildet und geübt werden mußte, sollte sie keinen Schaden anrichten.
Sie sah auf Melora hinab, die in einem Schlaf der Erschöpfung dalag. Sie waren drei junge Mädchen gewesen, als sie zusammen im Turm von Dalereuth im Gebrauch der Matrix unterwiesen wurden, Melora, Rohana und Leonie Hastur, die Schwester jenes Lorill Hastur, der jetzt hinter dem Thron von Thendara regierte. Rohanas Familie hatte darauf bestanden, sie müsse den Erben der Domäne Ardais heiraten, um dort den großen Besitz zu verwalten, Söhne und Töchter zu gebären. Leonie wurde Wärterin im Turm, denn ihre Begabung lag weit über dem Durchschnitt der Telepathen. Jetzt kontrollierte sie den Turm von Arilinn und damit alle arbeitenden Telepathen von Darkover. Leonie hatte allerdings den Preis der Wärterin bezahlt; sie hatte auf Liebe und Ehe verzichten und ihr Leben lang eine Jungfrau bleiben müssen.
Melora hatte keine Wahl gehabt. Jalaks bewaffnete Männer hatten sie entführt und in Ketten gelegt. Ein Leben lang leiden müssen ...
Bleibst uns wirklich eine eigene Wahl? überlegte Rohana. Wir teilen das Bett eines Fremden, weil die Familie es verlangt, oder wir haben die Macht über unbeschreibliche Kräfte, können aber nie nach der Hand eines anderen Menschen ausgreifen in Liebe und Zärtlichkeit. Wir werden in unser Schicksal geschoben ...
Jaelles kleine Hand berührte sie sanft. »Tante, du bist so blaß ...«, sagte sie.
»Weißt du, Kind, ich habe nichts gegessen. Ich werde wohl auch bald deine Mutter aufwecken müssen, damit sie etwas ißt ...« Diesmal ging sie aber zu den Amazonen, die eben eine Mahlzeit austeilten. Sie verdünnte den Wein mit dem Wasser aus der Quelle und fand ihn so erträglich.
Kindra sah nach der noch immer schlafenden Melora. »Sie braucht Ruhe dringender als Essen und Trinken. Sie kann essen, wenn sie aufwacht. Aber du, Jaelle, du wirst in diesem Nachthemd bald einen Sonnenbrand bekommen. Gwennis, Leeanne und Devra, ihr müßt doch unter euren Sachen etwas für das Kind finden?«
Alle gingen sofort zu ihren Satteltaschen, und auf eine fast mütterliche Art, die Rohana rührte, kleideten sie Jaelle zweckmäßiger ein. Die Hosen und die weichen Lederstiefel waren natürlich viel zu groß, und an Reithosen war das Kind überhaupt nicht gewöhnt, denn in den Trockenstädten ritten die Frauen im Damensattel. Das taten die Frauen von den Domänen nicht, doch die meisten ritten in ihren langen, weiten Röcken ebenso geschickt wie die meisten Männer.
Rohana kämmte ihr die langen Haare und flocht sie zu einem dicken Zopf, um sie nicht abschneiden zu müssen. Sie selbst hatte, um sich den Amazonen anzupassen, ihr feuerrotes Haar abschneiden müssen. Was würde Gabriel sagen, wenn er mich so sähe? überlegte sie. Er müßte wohl verstehen, daß sie das Haar für Melora hatte opfern müssen. Es würde ja nachwachsen ...
Nachdem alle gegessen hatten, teilte Kindra Devra und Rima zur Wache ein, damit alle anderen während der größten Tageshitze schlafen konnten. Leeanne und sie selbst hatten die ganze Nacht hindurch die Kolonne angeführt, und Nira war durch ihre Wunde geschwächt. »Und du, domnina, solltest auch schlafen«, riet sie Jaelle.
Gwennis schenkte dem Kind noch eine Süßigkeit, damit ihr Mund nicht allzu trocken werde, und Jaelle bedankte sich mit einem reizenden Kopfnicken. Etwas schien sie lange zu beschäftigen, und schließlich fragte sie: »Gwennis, einige von euch sehen fast wie Männer aus? Warum?«
»Ja. Leeanne und Camilla. Sie wurden neutralisiert. Weißt du, es gibt Frauen, die ihre Weiblichkeit als zu große Bürde betrachten und deshalb diesen Weg wählten, auch wenn das Gesetz ihn verbietet. Manchmal ist es auch wirklich beschwerlich, eine Frau zu sein, und ich denke, soviel weißt du auch schon. Nun, ich selbst ziehe es vor, eine Frau zu bleiben.«
Rohana hatte zugehört, und da sie eine verwöhnte Dame von den Domänen war, hatte sie oft gemeint, jene Mädchen, die nicht besonders weiblich aussahen, müßten es sehr schwer haben, je einen Mann zu finden und ein normales Frauenleben zu führen.
Aber Kindra, Rima und die anderen, die sich durch ihre Kleidung und ihr kurzgeschorenes Haar so sehr von den anderen Frauen unterschieden, waren liebenswürdig und sogar mütterlich und sehr gütig.
Jaelle lächelte Gwennis an. »Wenn du dein Haar nicht so kurz geschnitten hättest,
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