Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Nombeko hatte den Fahrerwechsel vorgeschlagen. Schlimm genug, wenn sie mit einer Atombombe auf einem überladenen Anhänger durch die Gegend fuhren. Dann sollte der Fahrer zumindest den Führerschein haben.
Holger 1 fuhr weiter Richtung Norden.
»Wo willst du eigentlich hin, Liebling?«, fragte die junge Zornige.
»Weiß ich nicht«, sagte Holger 1. »Das wusste ich noch nie.«
Celestine überlegte. Vielleicht sollten sie … trotz allem …?
»Nach Norrtälje?«, schlug sie vor.
Nombeko unterbrach die Besprechung im Fond. Sie hatte etwas in Celestines Stimme gehört, was ihr verriet, dass Norrtälje für sie mehr war als nur einer von vielen Orten.
»Warum nach Norrtälje?«
Celestine erklärte, dass ihre Großmutter dort wohnte. Klassenverräterin und schwer zu ertragen. Aber jetzt waren die Umstände nun mal so, wie sie waren, und eine Nacht in Gesellschaft ihrer Großmutter würde die junge Zornige schon aushalten, wenn die anderen es auch schafften. Außerdem baute ihre Großmutter Kartoffeln an, da war es ja wohl das Mindeste, dass sie ein paar davon ausbuddelte und die Gruppe zum Essen einlud.
Nombeko bat Celestine, mehr von der alten Dame zu erzählen, und bekam zu ihrer Überraschung eine ausführliche und relativ verständliche Antwort.
Celestine hatte ihre Großmutter über sieben Jahre nicht gesehen. Und sie hatten in der ganzen Zeit auch kein Wort mehr miteinander gewechselt. Trotzdem hatte sie als Kind die Sommer immer auf Großmutters Gut Sjölida verbracht, und sie hatten es … schön … zusammen gehabt (dieses »schön« kam Celestine schwer über die Lippen, weil ihre Grundeinstellung besagte, dass nichts schön war).
Sie erzählte weiter, wie sie als Teenager begonnen hatte, sich für Politik zu interessieren. Sie begriff, dass sie in einer Gesellschaft von Dieben lebte, in der die Reichen immer reicher wurden und Celestine immer ärmer, weil ihr Vater ihr das Taschengeld strich, solange sie sich weigerte zu tun, was ihre Eltern von ihr verlangten (zum Beispiel sie nicht mehr jeden Morgen am Frühstückstisch als Kapitalisten zu beschimpfen).
Als Fünfzehnjährige trat sie der Kommunistischen Partei bei, dem marxistisch-leninistischen Flügel (den Revolutionären), teils wegen des Zusatzes in Klammern, denn das klang verlockend für sie – obwohl sie nicht wusste, was für eine Revolution sie sich eigentlich wünschte, wogegen und wofür. Aber auch, weil es mittlerweile so schrecklich out war, Marxist-Leninist zu sein. An die Stelle der linken Achtundsechziger waren die rechten Achtziger getreten, die sogar ihren eigenen Ersten Mai erfunden hatten, obwohl diese Feiglinge ihn lieber als Vierten Oktober bezeichneten.
Sowohl out als auch Rebellin zu sein, passte Celestine hervorragend in den Kram, außerdem war diese Kombination das genaue Gegenteil dessen, wofür ihr Vater stand. Er war Bankdirektor und damit zwangsläufig Faschist. In ihren Tagträumen fantasierte Celestine, wie ihre Freunde und sie Papas Bank stürmten, die roten Fahnen schwenkten und nicht nur Celestines Taschengeld für diese Woche forderten, sondern auch die einbehaltenen Taschengelder der letzten Wochen zuzüglich Zinsen.
Doch als sie auf einer Mitgliederversammlung der KPML ( R ) vorschlug, dass die Ortsgruppe aus oben genannten Gründen in die Handelsbank von Gnesta marschieren sollte, wurde sie zuerst ausgebuht, dann gemobbt und zum Schluss sogar ausgeschlossen. Die Partei hatte alle Hände voll damit zu tun, Genosse Robert Mugabe in Zimbabwe zu unterstützen. Inzwischen hatte das Land die Unabhängigkeit errungen, nun musste nur noch der Einparteienstaat durchgesetzt werden. Sich in dieser Situation damit abzugeben, schwedische Banken zu überfallen, um das Taschengeld gewisser Mitglieder einzufordern, war einfach nicht angesagt. Celestine wurde vom Präsidenten der Ortsgruppe als Lesbe beschimpft und hinausbegleitet (Homosexualität war damals das Zweitschlimmste, was ein Marxist-Leninist sich vorstellen konnte).
Die ausgeschlossene und sehr junge zornige Celestine musste sich darauf konzentrieren, die neunte Klasse mit den schlechtestmöglichen Noten in sämtlichen Fächern abzuschließen. Aus Protest gegen ihre Eltern arbeitete sie aktiv auf dieses Ziel hin. Zum Beispiel schrieb sie ihren Englischaufsatz auf Deutsch und behauptete in einer Geschichtsprüfung, dass die Bronzezeit am 14. Februar 1972 begonnen habe.
Gleich nach ihrem letzten Schultag legte sie ihr Abschlusszeugnis auf den Schreibtisch
Weitere Kostenlose Bücher