Die Anatomie des Todes
Kragen ihrer Jacke, mit der anderen packte er sie am Hosenbund. Im nächsten Augenblick hob er ihre achtundfünfzig Kilo in die Höhe und hievte sie über das Geländer.
Für einen kurzen Augenblick zappelte sie über dem Abgrund. Ihre Hände griffen verzweifelt nach dem Geländer. In diesem Moment verhakte sich der Gürtel ihrer Jacke an der Aufhängung des riesigen Schilds, was ihr Gelegenheit gab, sich an dessen oberer Kante festzuklammern.
In achtundzwanzig Metern Höhe hing sie in Todesangst an dem enormen Metallschild, dessen scharfe Kante sich in ihre Handflächen schnitt.
Sie blickte nach oben. Die beiden Männer lehnten sich über das Geländer und schienen über ihren missglückten Versuch wütend zu sein. Der Mann mit dem Messer beugte
sich weit hinüber und versuchte, ihr in die Hände zu schneiden. Die Klinge zuckte ein paar Mal knapp über Majas Fingerknöchel hinweg, erreichte sie jedoch nicht. Im Grunde war es auch gleichgültig, weil sie sich nicht mehr lange würde festhalten können. Plötzlich rief der andere etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand, und zeigte in Richtung der Werft.
Das groÃe Eingangstor öffnete sich langsam, worauf zirka fünfzig Arbeiter in roten Overalls das Werftgelände verlieÃen und im nächsten Moment auf der Brücke waren. Die beiden Männer sprangen ins Auto. Der Van wendete mit quietschenden Reifen und brauste in Richtung Zentrum davon.
Die Stahlkante schnitt immer tiefer in Majas Hände. Sie spürte, wie ihr das Blut in der Jacke die Arme hinunterlief. Gleich würde sie loslassen müssen. Es war nur noch eine Frage von Sekunden. Gleich würde sich das scharfe Metall so weit durch ihre Hände hindurchgefräst haben, dass sie unweigerlich in die Tiefe stürzte. Ihr Körper zog sie hinab, als sehne er sich nach dem freien Fall. Schneeflocken tanzten wie Glühwürmchen um ihr Gesicht und schmolzen auf ihren tauben Händen.
Ihre FüÃe suchten Halt auf dem spiegelblanken Schild, doch es war unmöglich, die Hände auch nur minimal zu entlasten. Jetzt war es so weit. Sie spürte ihren Griff nicht mehr und schloss die Augen, während ihr ein einziger Gedanke durch den Kopf jagte: Ich â kann â den â Sturz â nicht â überleben!
Sie hatte ein Kitzeln im Magen erwartet, ein Sausen in den Ohren und das Zerren des Windes an ihren Kleidern, doch nichts von all dem geschah. Stattdessen spürte sie einen stechenden Schmerz, als ihre Schulter nach oben gerissen wurde.
Sie schrie auf und sah eine Hand, die sich um ihr Handgelenk
geschlossen hatte. Ein Meer von Händen streckte sich ihr plötzlich entgegen. Sie packten sie und zogen sie über die Brüstung des Geländers.
Die Männer schlossen sich um Maja, die auf dem Boden saÃ. Unter den zahlreichen Stimmen drang eine laut und deutlich an ihr Ohr: »Sind Sie okay?«
Sie nickte. Zwang sich sogar zu einem Lächeln. Wie merkwürdig, dass die menschliche Natur stets darauf aus war, irgendwie das Gesicht zu wahren, wie verzweifelt die Lage auch sein mochte. Sie versuchte die Hand zu einer beruhigenden Geste zu heben, der Schmerz in ihrer Schulter lieà dies aber nicht zu.
»Maja, bist du das?«
Sie schaute den Mann an, der vor ihr in die Hocke gegangen war und erkannte das unrasierte Gesicht von Peik.
»Hildegun ⦠Bezwingerin des Meeres ⦠Mutter unserer Nation ⦠Halleluja«, begrüÃte Maja ihn.
»Halleluja«, entgegnete er leise.
Ein herzliches Gelächter war das Letzte, was aus dem tiefen Dunkel, in das Maja versank, zu ihr durchdrang.
27
Sie wusste nicht, wie oft zuvor sie schon aufgewacht war, oder ob das meiste Bruchstücke ihres Traumes gewesen waren. Die Bilder von der Brücke vermischten sich mit Eindrücken aus dem Krankenwagen. Sie meinte sich auch an die Sirene und die kurzen Blicke auf die Stadt erinnern zu können, die an ihrem Fenster vorbeigerast war. Der Geruch in der Notaufnahme und das Brennen ihrer Hände, als ihre Wunden gereinigt wurden. Der stechende Schmerz, als man ihr die Schulter einrenkte. An all das konnte sie sich vage erinnern, doch erst als sie hier im Dunkeln auf Zimmer Nummer 4 lag, eingehüllt in die Wärme des Betts, wusste sie ganz genau, wo sie sich befand.
Sie bemerkte, dass es säuerlich nach Tabak roch, und setzte sich auf. Blindheim stand in der
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