Die Anatomie des Todes
wenn ihre eigene Rückkehr weniger spektakulär ausfallen würde, war es doch ein schönes Gefühl, Skouboe willkommen zu sein. In dieser Hinsicht war sie genauso privilegiert wie Sidsel. Im Gegensatz zu Jo, der im Bewusstsein der Einwohner ein Schandfleck der Stadt bleiben würde. Nach seinem Tod hatte er die sprichwörtliche »Fünfzehn-Minuten-Berühmtheit« erlangt. Von der Presse verewigt, die ihn als Junkie bezeichnet hatte, der an einer Ãberdosis krepiert war.
War deshalb in ihrer Praxis eingebrochen worden? Wer der Einbrecher auch gewesen sein mochte, so war er nicht an den Medikamenten, sondern ausschlieÃlich an den Patientenakten interessiert gewesen ⦠Wollte er sich Jos Akte beschaffen? Eine Akte, die er aufgrund von Lindas falscher Archivierung nicht gefunden hatte? Warum die Mühe? Sidsels Klänge konnten Maja nicht länger von ihren Gedanken abhalten. Warum? Weil er mit Methadon vergiftet wurde. Nein, das stimmte nicht. Nicht mit Methadon. Das hätte er geschmeckt. Hatten sie ihn denn festgehalten und es ihm mit Gewalt eingeflöÃt. Warum gab es dann keine Druckstellen, keine Verletzungen? Dem Obduktionsbericht zufolge waren weder am Körper noch in der Mundhöhle Läsionen festgestellt worden. Sie fühlte ihr Herz klopfen. Sie war in Panik. Warum zum Teufel hatte sich Jo wieder in ihre Erinnerung geschlichen? Sie spähte in den dunklen Saal. Was hatte diese Tür erneut geöffnet? Lag es an Sidsel? Hatte sie ihr den himmelschreienden Kontrast zwischen ihr und Jo aufgezeigt? Den Kontrast zwischen dem Stolz und dem Abschaum der Stadt? Nein, so funktionierte ihr Gehirn nicht. So funktionierte ihr verdammtes Gehirn
nicht ⦠Was also hatte diese Tür geöffnet? Es musste schon früher am Tag geschehen sein. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wischte sie diskret fort. Sie wollte jetzt nicht gestört werden. Komm schon, denk nach! Die Uniformen? Die Feuerwehr? Antonsen? Antonsens schlingernder Gang? Petra Jakola mit der Fahne? Ihre aufrechte Haltung? Ihr schwindelte, während sie vor ihrem geistigen Auge die CVJ M-Mädchen wie kleine Nazis marschieren sah. Sie hätte nicht so viel Schaumwein trinken sollen. Hätte nicht auf die Toilette gehen und eine weitere Valiumtablette einnehmen sollen. Begleitet von zwei Rohypnol. Bloà weil sie Angst vor dem klaustrophobischen Saal gehabt hatte. War hier die Antwort zu finden? Saà hier irgendwo der Schuldige? Blindheim? Blindheim mit dem Geschwür im After und seiner Squaredance tanzenden Frau? Wohl kaum.
Sie spürte die groÃen SchweiÃflecken unter ihren Achseln. Ihren Geruch nach saurer Baumwolle. Nicht nach Tabak und Leder. Leif der Punker mit seiner Flaggengirlande im Rollstuhl? Flaggen? Hatten sie eine Bedeutung? Skarvs Logo? Ach was! Leif spielte längst keine Rolle mehr. Doch er hatte sie auf die Tätowierungen aufmerksam gemacht. Vielleicht hatte alles im Skudekroen begonnen. Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr. Auch gut. Das Schicksal tut ohnehin, was es will. Und die Antwort kennt nur der Wind: »Jo sollte sterben«, rief der Polarwind ihr zu. Jetzt wirst du sterben ⦠du verdammter Junkie. Aber Jo war kein Junkie. Was dann?
Die Fragen knatterten durch ihren Kopf wie Maschinengewehrfeuer. Aber es kam keine Antwort. Bis eine weit entfernte Stimme sich bemerkbar machte: Der Läufer läuft, der Springer springt, der Turm fällt und nur der König bleibt stehen.
Es waren die Ãberreste eines Abzählverses, den sie einst von ihrem GroÃvater gelernt hatte, damit sie die einzelnen
Figuren voneinander zu unterscheiden lernte. Es war wie ein Mantra, das sie nicht loslieÃ.
SchlieÃlich lösten die Wörter sich in ihre Silben auf: lauflauf-spring-Turm-fällt-bleibt. Es summte in ihrem Kopf. Die Silben wurden zu einem weiÃen Nebel, der sich in eine dünne Stimme verwandelte. Eine kindliche Stimme, die ihr die Antwort ins Ohr flüsterte.
»ScheiÃe!«, stieà Maja so laut aus, dass sich Stig und einige andere Zuhörer vorwurfsvoll zu ihr umdrehten. Sie zuckte entschuldigend die Schultern. Sie beugte sich zu Stig hinüber. »Ich muss gehen«, flüsterte sie.
Stig schaute sie irritiert an. »Jetzt?«
»Auf die Toilette«, fügte sie rasch hinzu.
»Kann das nicht warten?«
»Nein, nein, mir platzt gleich die Blase.«
Das waren die magischen Worte, die ihn Platz
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