Die Anatomie des Todes
lag das in erster Linie daran, dass sie die Einschätzung des Kommissars nicht teilte. Ihr fehlte einfach die Phantasie, sich vorzustellen, wie das schmächtige Männlein, das sie im Fernsehen gezeigt hatten, den korpulenten Kvam durch die Wohnung getrieben hatte. Selbst wenn Rolf Vikse leistungsfördernde Mittel eingenommen haben sollte, wäre es immer noch der Kampf eines Hamsters gegen einen Eber gewesen. Zu vieles sprach ihrer Meinung nach dafür, dass es mehr als einen Täter gegeben hatte.
Maja ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher aus. Sie trat ans Fenster und schaute hinaus, als übe die dunkle StraÃe eine merkwürdige Anziehungskraft auf sie aus. Dort, wo der schwarze Geländewagen geparkt hatte, stand nun ein klappriger Fiat. Sie zog an der Schnur, worauf die Jalousie knallend herunterfiel.
Unter den Fotos, die sie von Rolf Vikse veröffentlicht hatten, war eines gewesen, das ihn auf einer privaten Party zeigte. Er hatte sein Glas gehoben und lächelte dem Fotografen sichtlich angeheitert zu. Obwohl sie das Bild nur
kurz gezeigt hatten, war sich Maja ziemlich sicher, dass Vikse kein Tattoo auf dem Handrücken hatte. Allein diese Tatsache überzeugte sie davon, dass die Polizei hinter dem Falschen her war.
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Maja bog um die Ecke und fuhr den Talggyden hinauf, der eine verschwiegene SeitenstraÃe der MÃ¥kegata war. Es war das erste Mal, dass sie die Losgata hinter sich lieà und tiefer in das Viertel eindrang, das sich am Westufer des Fjords entlangzog. Die Losgata war gewissermaÃen die letzte Bastion vor den heruntergekommenen alten Häusern der Heringsfischer, die das vornehme Zentrum auf der anderen Seite der Brücke so gern vergessen machen wollte. Je näher man dem Meer kam, desto baufälliger wurden die Gebäude und desto verlassener die gesamte Gegend. Es war, als durchlaufe man die Entwicklung der Stadt in umgekehrter Richtung: von den funkelnden neuen Einkaufszentren an der UmgehungsstraÃe über den Marktplatz der Stadt mit seinen Häusern aus Stahl und Glas bis zu den armseligen Baracken des Heringsviertels.
In dieser Hinsicht befand sie sich plötzlich in der Vergangenheit, nicht ihrer eigenen, sondern der von Stig. Sie war auf den Spuren jenes Tages, als er im Alter von sechzehn Jahren mit klopfendem Herzen sein Mofa vor Leifs Tattoowerkstatt geparkt hatte.
Stig hatte sie darauf hingewiesen, wie ungewöhnlich ein Tattoo auf dem Handrücken war, und wenn sie darüber nachdachte, hatte sie tatsächlich noch nie eine Tätowierung auf der Hand eines ihrer Patienten gesehen. Darum hielt sie es auch für möglich, dass sich Leif der Punker daran erinnern würde. Vielleicht konnte er ihr sogar den Namen des Mannes nennen.
Nun stand sie vor demselben Laden, vor dem Stig einst all seinen Mut zusammengenommen hatte. Sowohl das Schaufenster
als auch die kleine Scheibe in der Tür waren mit Zeitungen beklebt, die einen Blick in das Innere des Hauses unmöglich machten. Dem Erscheinungsdatum der vergilbten Zeitungen nach zu urteilen, war der Laden vor über zehn Jahren geschlossen worden.
Auf der Innenseite der Scheibe, unmittelbar über dem Türspalt, klebte eine Visitenkarte: »pInk World« stand in groÃer Schrift darauf. Und darunter: »Bodyart & Piercing.« Die Adresse war ihr bekannt. Vielleicht hatte Leif den Untergang seines Geschäfts überlebt und sich auf der anderen Seite des Meeres an Land gerettet. Sich neuen Zeiten und neuen Märkten in einer der vornehmsten GeschäftsstraÃen der Stadt angepasst.
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Die HauptstraÃe war immer noch voller Passanten, die auf der Jagd nach weiteren Schnäppchen von einem Geschäft zum anderen hetzten. In weniger als einer Stunde, wenn die Auslagen der Läden von der StraÃe hereingeholt wurden, würden die Menschen schlagartig verschwinden und die Stadt öde und leer zurücklassen.
Maja betrat den hellen, freundlichen Geschäftsraum von pInk World. Die drei Duftkerzen, die neben einem goldenen Buddha in einer der Ecken standen, verströmten den scharfen Duft nach Jasmin. Wäre nicht das charakteristische Summen der Tätowiernadel gewesen, das hinter dem cremefarbenen Vorhang zu hören war, hätte Maja hier einen Schönheitssalon vermutet. Leif ging wirklich mit der Zeit.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Maja drehte sich um und sah sich einer Frau gegenüber, die ein wenig älter als sie selbst zu sein
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