Die Anfänge meiner Welt
jetzt können meine Großmutter
und er sich (gelinde gesagt) nicht mehr ausstehen. Sie muß sehr krank gewesen
sein in diesem klirrend kalten Winter 1932-33, denn am Mittwoch, dem 5. April,
notiert er in seinem Tagebuch: »Hilda war zum erstenmal seit Weihnachten wieder
draußen.« Wenn er sie überhaupt erwähnt, dann nur, um ihre Abwesenheit zu
registrieren. Und sie ist oft weg, sobald es ihr bessergeht, und läßt ihn im
eigenen Saft schmoren. Auch im Tagebuch brodelt es: »Es ist einfach ungerecht.
Ich glaube, in dieser Diözese sitzen eine Menge Idioten in höheren Ämtern...
Ich bete, daß dies mein letztes Ostern an St. Cynon ist.«
Und plötzlich, als er am
wenigsten damit rechnete, wurden seine Gebete erhört. Nur noch wenige Wochen,
und sein Ehrgeiz und seine Tatkraft sollten Wiederaufleben. Am 13. Juni weicht
der lange Winter seines Mißvergnügens endlich dem Frühling — »Nun ist der Tag
der Hoffnung doch noch angebrochen. Der Bischof hat mir geschrieben, er bittet
mich wegen der Pfründe HANMER und TALLARN GREEN zu sich.« Und zur Feier des
Tages bricht er die grüne Tinte an. Dann geht alles ganz schnell. Am 25. Juni
fährt er mit dem Zug in den Norden, besichtigt zwei Tage später das Pfarrhaus
(»ein hübsches altes Haus, aber ich sehe mich nicht darin«) und sagt am 3. Juli
zu, so daß er am Freitag, dem 28. Juli, in der Church Times die
Bekanntmachung seiner Ernennung lesen kann, die dadurch erst real wird — »O
Herr, endlich werden meine Wünsche wahr...« — , und wenige Wochen später fängt,
wie wir wissen, der Spaß an.
Alles ist plötzlich in Bewegung, die
alten Fixpunkte seiner Depression bleiben im Rhondda-Tal zurück — desgleichen
seine Frau, sein Sohn und auch Valma, vorläufig jedenfalls, denn das Pfarrhaus
in Hanmer muß erst ein wenig aufgemöbelt werden; außerdem brauchen die drei
Zeit zum Packen. Er ist allein in diesem neuen Ort (»ein schönes Fleckchen
Erde«), wo ihn kein Mensch kennt. Mobilität. So etwas wie Freiheit. Er muß sein
Amt sofort antreten, denn der seit langem kränkelnde alte Kanonikus hat sich
endlich geschlagen gegeben und das Feld geräumt. Es sind drei Meilen von der
einen Kirche zur anderen, über holprige, gewundene, mit Kuhfladen bedeckte
Landstraßen. Er schafft sich ein Fahrrad an, schiebt es die sanften Hügel
hinauf (Berge gibt es hier nicht) und rollt auf der anderen Seite im Freilauf
wieder hinunter. In seinem Tagebuch fädelt er die Kette der neuen Ortsnamen auf
- Bangor-on-Dee, Wrexham, Ellesmere, Horseman’s Green, Eglwys Cross,
Bronington, Bettisfield, Whitchurch — und umreißt einen Bezirk, in dem sein Weg
immer häufiger den von Schwester Burgess kreuzt, der Gemeindeschwester, die
natürlich auch ein Rad hat...
Ironischerweise ist er wenige
Tage zuvor noch ganz auf Einsamkeit und Langeweile eingestellt. »In Hanmer ist
es sehr ruhig«, notiert er bedenklich, »sehr... Die Zeit wird mir hier ein
bißchen lang.« Dann kommt das Fahrrad. Es sind glühendheiße Augusttage, die
Kinder baden im See, so wie wir zwanzig Jahre später (nur daß es 1933
ausschließlich Jungen sind), und noch am selben Tag berichtet er von seiner
ersten gemeinsamen Fahrt mit der Schwester (Hier fängt der Spaß an). Ein
junger Mann ist ertrunken, und beide werden in amtlicher Eigenschaft an den See
gerufen. Das ist der Beginn einer tragischen Nebenhandlung, die noch monatelang
im Hintergrund rumort: Der ertrunkene Jack ist Mollys junger Ehemann, die
völlig gebrochene Molly kommt als Dienstmädchen ins Pfarrhaus, sie verliert den
Verstand, Schwester Burgess versucht, sie im Armenhaus unterzubringen, und so
weiter. Zunächst aber ist Jacks Tod das große Ereignis, das die Gefühle
aufwühlt. Es dringt durch die schwüle Luft und macht jede Illusion von
ländlicher Idylle zunichte. Die Leiche taucht drei läge lang nicht auf, und
ganz Hanmer hält Wache. Man steht in erhitzten Grüppchen beisammen, unterhält
sich leise und blickt auf die unschuldige Wasserfläche hinaus, die sich nur
kräuselt, wenn ein Fisch nach einer Fliege schnappt. Jack war ein guter Schwimmer,
und das gibt seinem Tod etwas Mysteriöses: Es müssen Schlingpflanzen gewesen
sein oder ein Krampf oder eine kalte Strömung, denn manchmal — auch zwanzig
Jahre später noch — strich einem in der warmen Brühe unter den Seerosen
plötzlich eine eisige Strömung um die Beine, genau dort, wo der Grund steil
abfiel.
Auch Großvater verlor zusehends
den Boden unter den Füßen, aber er war im
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