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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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er sich kaum dazu durchringen
konnte, das Dach ihrer Behausungen zu flicken, und nur Phantasten glaubten, er
würde irgendwann die Wasserleitungen erneuern. Wenn jetzt eine Pächterfamilie
fortzog, ließ er ihr Haus sofort abreißen, und nur ein Fliederbusch oder ein
blühender Johannisbeerstrauch erinnerte noch daran, daß hier einmal ein Garten
gewesen war.
    Auf dem Watson-Hof aber ging
vorerst alles weiter, als würde es immer so bleiben. Nachmittags holte ich die Kühe
von der Weide und kam mir dabei ungemein nützlich vor, geborgen im Gleichmaß
der Tage und von ihm getragen. Die Tiere kannten den Weg, und man brauchte nur
mit dem Stock, den man pro forma und um Eindruck zu schinden aus der Hecke
hervorgezogen hatte, hinter ihnen herzuschlendern und »Ho!« zu rufen, wenn sie
stehenblieben, um am Straßenrand zu naschen. Sie trotteten in einer Wolke von
Fliegen und Stechmücken dahin, und ihre Schwänze waren ununterbrochen in
Bewegung, um die Insekten zu verscheuchen, außer wenn die eine oder andere eine
Sequenz brauner Fladen fallen ließ, wobei sie die obersten Schwanzwirbel
zierlich anhob wie eine Dame, die den kleinen Finger von der Teetasse
abspreizt. Sie verliehen ihrer Hüterin Würde, diese großen, ruhigen, bedächtigen
Tiere, und auch Macht: Wenn ein Auto kam, schaute ich unbeteiligt ins Leere und
ließ es eine Weile warten, bevor ich die Herde auf die Seite trieb. Das war
noch schöner als Traktorfahren, besonders wenn Mr. Watson sich den Bullen
ausgeliehen hatte. Dann sah man, wie die Autofahrer zusammenzuckten, wenn sie
den Ring in der Nase sahen, die über den Boden schleifende Kette, den schweren
Trott des Tieres, die roten Augen. Inmitten seines Harems war der Bulle ein
träges, lammfrommes Tier, aber das wußten Außenstehende ja nicht, und ich
weidete mich an ihrer Bestürzung, wenn sie merkten, daß niemand außer mir auf
ihn aufpaßte. Dann kaute ich gedankenverloren an meinem Strohhalm und sonnte
mich in dem Bewußtsein, eine Landpomeranze zu sein, ein Bauerntrampel, eine
Hinterwäldlerin.
    Ich war halbwegs zu einem
Jungen geworden, einem Zerrbild der kleinen Schäferin meiner Mutter, verwaist
und anonym; ich ging ganz in der Außenwelt auf. Die Tage auf dem Hof waren so
gleichförmig, daß man sich an einem Ort wähnte, an dem die Zeit stillstand und
die Zukunft gesichert schien. Und man war jenen überlegen, die — wie meine
Eltern — so ängstlich darum besorgt waren, wer und wie man zu sein hatte. Warum
sollte man sich nicht verlieren, vom Weg abkommen und ihn doch finden inmitten
der Kühe und Hecken, der Gräben und der Gatter, die man mit dem Fuß aufstoßen
mußte? »Er wunna move.« Leben, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen — warum
nicht? Ich war auf dem besten Wege, mir eine Art Naturreligion
zurechtzuzimmern, zum Ausgleich für Grandpas Abtrünnigkeit, eine Apotheose der
tiefsten Provinz, wo ich ein x-beliebiges denkendes Wesen war, ein Neutrum,
farblos, gut getarnt. Die Steine würden mir predigen, in der Scheune würde ich
Bücher lesen, in Ewigkeit, amen.
    Doch selbst wenn man sich — wie
ich — darauf verstand, die Uhrzeit nicht zu wissen, konnte man nicht übersehen,
daß Hanmer nun einmal in der Welt der unruhigen fünfziger Jahre lag.
Hinterwäldler sollten nach dem Ende der schlechten Zeit eine wichtige Rolle
spielen, sie waren Wasser auf die Mühlen, die wahren Träger des Aufschwungs. Im
Land der Fünfziger mußte man beruflich ehrgeizig, privat aber angepaßt sein,
man mußte sich hocharbeiten, aber in den vorgegebenen Bahnen. Man durfte den
Anschluß nicht verpassen, sich aber auch nicht vordrängen. Die älteren
Generationen konnten in Hanmer bleiben, meine Generation würde das nicht
können, selbst wenn sie es wollte. Wir waren überflüssig auf dem Land, man
würde uns, auf Gedeih oder Verderb, wegschicken und uns auf einen Neuanfang als
gute Verbraucher trimmen.
    Auch etwas ganz Banales, aber
Aufschlußreiches markierte die Veränderung: die Kleidung. Nach den Zeiten der
Rationierung hatte man plötzlich eine reiche Auswahl und war doch
eingeschränkt, nicht nur finanziell, sondern auch durch allerlei Gebote in
Sachen Mode und Anstand, von denen Kinder keineswegs ausgenommen waren. Mädchen
beispielsweise konnten zwar Hosen tragen, aber nicht etwa irgendwelche Hosen,
die eine Neutralität herbeigezaubert hätten, um die es mir ging, wenn ich meine
Zöpfe in den Kragen meines Anoraks stopfte und an einem Strohhalm kaute. Nein,
die Hochglanzkataloge

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