Die Anfänge meiner Welt
merkte ich, daß auch mein
Partner zu kämpfen hatte. Er schien die Schritte nicht mehr so recht zu wissen,
denn er schwenkte meinen Arm auf und ab und zählte leise mit (eins, zwei,
drei), und aus dem Mund roch er wie die offenen Schlünde der Pubkeller an den
Bürgersteigen von Whitchurch, wenn die Getränke angeliefert wurden. Bier. Er
hatte getrunken. Das war zwar eigentlich aufregend, weil verboten, aber er war
ängstlich und fahrig und hatte feuchte Hände. Er trat mir auf die Füße (eins,
zwei...) und stöhnte, als täte es ihm mehr weh als mir, und dann war es vorbei,
und ich saß mit meinen leicht lädierten weißen Schuhen wieder in der
Mädchenecke und wartete weiter auf das eigentliche, das mystische
Eröffnungsritual des Abends.
Jetzt würde mich bestimmt einer
aus dem Häuflein der Sechstkläßler im Smoking erwählen, jemand Älterer (Lehrer
tanzten leider nur mit Lehrerinnen), dessen flüchtige Berührung mir die
Geheimnisse des Quickstep und der höheren Physik erschließen würde. Doch meine
nächsten beiden Partner waren genauso unbeholfen und nervös wie ich. Es tat
sich nichts, und wie zur Bestätigung kreuzte mein erster Partner wieder auf,
noch aufgelöster als zuvor, mit offenem Kragen. Er wischte sich die Stirn, und
als wir diesmal über die Tanzfläche stolperten, zählte er nicht mit, sondern
flüsterte mir etwas ins Ohr: Seine Mutter habe sich den Arm gebrochen, bei
einem Sturz von der Trittleiter in dem Geschäft, in dem sie arbeite, in dem sie
aber nicht arbeiten müßte, wenn ihre Söhne und ihr Mann sich anständig um sie
kümmern würden, was sie aber nicht täten, sein unmögliches Benehmen mache alles
noch schlimmer, kein Wunder, daß er blau sei... Er lachte sarkastisch und
machte ein Gesicht, als würde er im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. Es
war schrecklich. Jeder Tanz mit ihm entfernte mich weiter vom Kavalier meiner
Träume. Er hinterließ seine Spuren an mir — diesmal nicht nur schmerzende Zehen
und schmutzige Schuhe, sondern auch einen feuchten Fleck an meinem Kleid, im
Kreuz, wo seine Hand gelegen hatte, und meine Haare fühlten sich dort, wo er
sich zu mir gebeugt und mir seine Geschichte erzählt hatte, klebrig an. Wer war
er? Wie konnte ich ihn loswerden?
In der Mädchenecke wußten sie
wenigstens, wer er war, nämlich der entfernte Vetter einer Fünftkläßlerin
namens Sheila, einer schlaksigen Außenseiterin mit extrem vorstehenden Zähnen,
die sich einmal, als ich selbst eine Außenseiterin mit Zahnspange war, mit mir
hatte anfreunden wollen. Es war Victor Sage, der Stolz seiner Mutter, wenn auch
sonst niemandes Stolz, bekannt dafür, daß er nach der Polizeistunde hinter den
Back Street Vaults herumalberte, trank und sich prügelte. Die Familie wohnte in
der Sozialsiedlung von Whitchurch, und seine Mutter arbeitete bei Dudleston’s,
dem Textilgeschäft in der High Street. Ich bekam Kopfschmerzen. Ich ging auf
die Damentoilette und schaute in den Spiegel. Natürlich! Vor dem Krieg hatte
meine Mutter ebenfalls dort gearbeitet, zusammen mit Gladys, also mußte Gladys
seine Mutter sein. Ich erinnerte mich, wie sie voreinander geprahlt hatten,
einmal besonders, als ich das Stipendium bekommen hatte, und Victor auch, wie
seine Mutter stolz erzählte, während sie, um Zeit zum Reden zu gewinnen, so
tat, als müßte sie Unterwäsche einpacken. Meine Mutter hatte auf dem Weg zu Mrs.
Smith sogar oft bei Mrs. Sage, wie sie jetzt hieß, hereingeschaut und mit ihr
geplaudert, während ich von einem Fuß auf den anderen trat und sie am Armel
zupfte. Dann verkörperte mein Peiniger also alles, was Whitchurch ausmachte, er
war Teil der sattsam bekannten Verflechtungen, aus denen ich mich so gern
befreit hätte. Und er sah auch nicht gut aus mit seinen schiefen Zähnen, was
mich allerdings nicht gestört hätte, wenn er der magische Mentor gewesen wäre,
den ich mir vorgestellt hatte, der Prinz des Ennui.
Gail hatte es viel besser
getroffen, was die Realisierung ihrer Phantasien anging. Ihre Augen leuchteten,
und sie summte ein paar Takte von Paul Ankas Superhit »Diana« vor sich hin. Er
handelte von einer mythischen älteren Frau, und Paul hatte ihn geschrieben, als
er sich mit vierzehn in seine Kinderfrau verliebte. Wunderbarerweise hatte Gail
in Whitchurch einen Paul-Anka-Doppelgänger gefunden, dessen Augen im Gegensatz
zu Pauls braunen (er war »syrischer Abstammung«) zwar blau waren, aber tief in den
Höhlen lagen und genau den richtigen in sich gekehrten Blick
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