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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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des New
Musical Express und setzte mich damit an den Ecktisch am Fenster im Café
Edwards, über dem großen, altmodischen Lebensmittelgeschäft, in dem es nach
Cheshire-Käse, Speck, braunem Zucker und dem gemahlenen Kaffee roch, der sich
oben im ersten Stock in die körnige graue Suppe verwandelte, die man dort
vorgesetzt bekam. Der Ecktisch war eine Art Krähennest oder Ausguck, von dem
aus man die halbe High Street überblicken konnte; launische Jungen und Mädchen
(überwiegend Jungen) kamen hierher, um die Passanten zu beobachten. Ich
brauchte kaum zu reden und konnte, wenn nötig, immer so tun, als läse ich in
meiner Zeitschrift. Gail überredete meist ihre Mutter, sie nach Whitchurch zu
fahren, und kam deshalb erst später, aber sie wollte ohnehin nur sehen und
nicht gesehen werden. Gegen Mittag war der Kreis der Stühle in der Ecke
schließlich so groß, daß kaum noch jemand aus dem Fenster schauen konnte. Das
Café widmete sich um diese Zeit wieder seiner traditionellen Aufgabe und
servierte hungrigen Leuten nach dem Einkaufen Fleisch und Gemüse mit viel Soße.
Bei einer kurzen Einsatzbesprechung in der Toilette, bei der wir den Damen
ausweichen mußten, die sich vor dem Spiegel die Hutnadeln feststeckten,
erzählte ich Gail, was ich gesehen und gehört hatte, und wir wurden wieder zur
Mädchenclique.

    Sie stellte eine Gegenkraft dar
gegen meinen unwiderstehlichen Drang, Jungen — es war schon fast egal, welche —
dahin zu bringen, meine Existenz zur Kenntnis zu nehmen, mir eine Existenz
zu geben. Aber der Drang war so unerbittlich wie die Schwerkraft. Ich
konnte es kaum erwarten, erwachsen zu werden, und um das zu erreichen, mußte
ich fürs erste niemand sein, maskiert, verfügbar. Einmal sagte ein Mädchen an
unserem Ecktisch einem der Jungen, daß ich Geburtstag hatte; es war der 13.
Januar 1958. Wie alt ich geworden sei, fragte er nebenbei. Fünfzehn, zischte
sie, und er war völlig perplex (also noch minderjährig!). Eigentlich erblühten
nur die Schlampen von der Hauptschule in Broughall (Brothel — Bordell — wurde
sie spaßhaft genannt) so früh, wie Unkraut.
    Der erste Junge, mit dem ich
kurz vor Frühlingsanfang tatsächlich »ging«, war der blonde, babygesichtige
Alan Burns. Er steckte in der gleichen Klemme wie ich: Auch er war erst
fünfzehn, aber er trank und rauchte und hatte genug davon, so jung zu sein.
Zweimal gingen wir Samstag abends zusammen ins Kino und knutschten dort so
ausdauernd, daß sich mein Gesicht ganz wund anfühlte, obwohl er sich bestimmt
noch nicht rasierte. In der dritten Woche entschuldigte er sich und sagte einem
Freund, der es einer Freundin sagte, die es mir sagte, daß ich »zu ernst« sei.
Ich sagte der Botin, die es weitersagen würde, es mache mir nichts aus, und zu
Gail sagte ich, es mache mir doch etwas aus, denn ich glaubte, das müsse so
sein, aber ich war mir nicht sicher. Unsere Verabredungen waren von banger
Eigenliebe erfüllt gewesen, unsere Münder trocken vor Lampenfieber. Ich dachte,
er wollte damit sagen, daß es mir mit ihm zu ernst sei, und war beschämt und
empört. Seine Flucht in die Zukunft war bereits geplant. Im Sommer ging er nach
der mittleren Reife von der Schule ab und trat in die Handelsmarine ein. Jahre
später, in unseren Swinging Twenties, lief ich ihm einmal über den Weg und
dachte, aha, das war es also, er hat von Anfang an Männer bevorzugt.
    Doch vielleicht hatte ich 1958
nur irgend etwas gesagt, was ihm verraten hatte, wie blaustrümpfig ich war. Wie
alle Mädchen damals wußte ich, daß es viel schlimmer war, zu gescheit zu sein,
als zu groß. Da ich einssechzig, blond und alles andere als redselig war,
entsprach ich den Erwartungen weitgehend, nur platzte ich manchmal mit großen
Worten heraus (»hypothetisch« oder »prätentiös«), die mir, ehe ich es recht wußte,
wie die Kröten im Märchen aus dem Mund sprangen. Man konnte jedenfalls die
falsche Art von Schweigen kultivieren, eher grüblerische Selbstversunkenheit
als aufmerksame Zuwendung. Wenn ich mit jemandem redete, war ich so damit
beschäftigt, mich zu fragen, was er wohl von mir hielt, daß ich gar nicht
richtig zuhörte.
    Mit Büchern war es anders. Ich
achtete nach wie vor auf jedes Wort. Die Nacht, in der ich Dracula zu
Ende las, war ungleich aufregender als der Samstagabend im Kino. Ich lag in
meiner Lichtinsel, die Nachtfalter prallten gegen Glühbirne und Lampenschirm,
das Kabel der Radioantenne klickte gegen die Fensterscheibe, und ich glitt

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