Die Angebetete
geschnüffelt. Das war ekelhaft gewesen.
Sie befanden sich nun etwa eine Stunde von Fresno entfernt, wenngleich sie nicht wusste, in welcher Richtung. Sie tippte auf die Ausläufer des Yosemite oder die Sierras, denn die Straße schien leicht anzusteigen. In Richtung Westen oder Süden war die Landschaft flach. Einmal hatten sie kurz angehalten, nachdem Edwin einen Blick in den Rückspiegel geworfen und die Stirn gerunzelt hatte. Er war an den Straßenrand gefahren und zu ihr nach hinten gekommen. Sie war vor ihm zurückgeschreckt. »Nein, nein, mir ist da ein Missgeschick unterlaufen«, hatte er gesagt. Eine dicke Strähne ihres Haars hatte unter dem Isolierband geklebt. Edwin hatte die Haare behutsam von dem Klebstoff gelöst. »Das darf nicht sein.« Und er hatte abermals erwähnt, wie lange sie es schon nicht mehr abgeschnitten hatte. »Zehn Jahre, vier Monate. Du solltest ein Lied darüber schreiben. Das wäre ein guter Titel.«
Dann hatte er zu ihrem Entsetzen eine Bürste zum Vorschein gebracht und sie sanft und gewissenhaft durch ihr Haar gezogen. »Du bist so wunderschön«, hatte er geflüstert.
Dann waren sie weitergefahren.
Nun sang er: »›She gets me where I’m going, and she always gets me back. She’s my red Cadillac.‹ Das ist klasse, so richtig klasse.«
Kayleighs Arme waren mit Handschellen vor ihrem Leib gefesselt. Sie hatte gehofft, einen der hinteren Türflügel öffnen und aus dem Wagen springen zu können, trotz des Tempos und des Verkehrs.
Aber es gab hier drinnen keine Türgriffe. Er hatte sie abmontiert. Edwin Sharp hatte alles sorgfältig geplant.
Während er weitersang, spürte sie, dass der Van von der Hauptstraße abbog und eine Weile einer Nebenstrecke in deutlich schlechterem Zustand folgte. Es ging bergauf. Zehn Minuten später rollten die Reifen knirschend über Erde und Schotter. Dann wurde der Untergrund noch unebener, und das Fahrzeug quälte sich mehrere Kilometer weiter nach oben. Schließlich ging es wieder waagerecht voran, und nach zehn Minuten hielt Edwin an.
Er stieg aus. Dann herrschte für einen langen Moment Stille.
Das ist nicht fair, dachte Kayleigh. Das ist einfach nicht fair.
You walk out onstage and sing folks your songs.
You make them all smile. What could go wrong?
Du gehst hinaus auf die Bühne und
singst den Leuten deine Lieder vor.
Du bringst sie alle zum Lächeln.
Was soll da groß schiefgehen?
»Hallo!« Edwin öffnete die hintere Tür. Eine große Lichtung wurde sichtbar, umgeben von Kiefernwald. Er half Kayleigh beim Aussteigen und zog das Klebeband von ihrem Mund – ganz sanft, obwohl sie auch diese Berührung als zutiefst widerwärtig empfand. Sie roch sein Rasierwasser – ja, allen Ernstes die gleiche Sorte, die ihr Vater benutzte – und seinen Schweiß.
Dann atmete sie tief ein und erschauerte vor Erleichterung. Die Luftnot hatte ihr wirklich zu schaffen gemacht.
Edwin trat zurück und starrte sie schmachtend an. Die Bewunderung hatte allerdings nichts mehr mit ihr als Künstlerin zu tun; seine Augen verweilten auf ihren Brüsten und ihrem Schritt.
»Meine Stiefel«, sagte sie.
»Nein, ich mag dich barfuß.« Ein Blick nach unten. »Diesen Nagellack müssen wir ändern. Er ist ein bisschen zu rot.«
Dann deutete er auf einen kleinen Wohnwagen unter einem Tarnnetz, der mitten auf der grasbewachsenen Lichtung stand. »Kommt dir das hier irgendwie bekannt vor?«
»Hör mal, wenn du mich gehen lässt, lasse ich dir einen Vorsprung. Sechs Stunden, zehn Stunden. Und ich kann dir Geld verschaffen. Eine Million Dollar.«
»Kommt es dir nicht bekannt vor?«, wiederholte er verärgert, weil sie es offensichtlich nicht begriff.
Sie schaute sich um. Ja, tatsächlich. Aber was …?
O mein Gott.
Kayleigh erkannte verblüfft, wo sie sich befand. Auf dem Grundstück, auf dem sie aufgewachsen war! Das ihr Großvater gerodet und auf dem er das Haus der Familie errichtet hatte. Edwin hatte den Wohnwagen ziemlich genau auf der Fläche des ehemaligen Gebäudes abgestellt. Im Laufe der Jahre hatte sich hier viel verändert, aber manche Orientierungspunkte ihrer Kindheit waren immer noch mühelos auszumachen. Sie erinnerte sich, dass Edwin gewusst hatte, wie sehr sie den Verkauf des Grundstücks durch Bishop bedauerte – und auch er hatte das Zuhause seiner Kindheit verloren. Wie hatte er die Parzelle gefunden? Wahrscheinlich durch eine Suche im Grundbuch.
Kayleigh wusste auch, dass die Minengesellschaft vor dem Bankrott alle privaten
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