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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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den starken Verdacht, dass der Schmerz, den ich in diesem Moment empfand, dem sehr nahe kam.
    Ich konnte sehen.
    Das war es, was so wehtat.
    Als ich mich in diesem Flur in dieser Klinik umdrehte und zu Peter und Lucy diese Worte sagte, war es, als risse ich die eine Tür in meinem Innern auf, die ich für immer verschlossen lassen wollte. Die äußerst dicke, verrammelte, vernagelte, dicht versiegelte Tür in mir. Wenn man verrückt ist, dann ist man zu nichts fähig. Aber man ist auch zu allem fähig. Zwischen diese beiden Extreme zu geraten, ist die reinste Hölle.
    Mein ganzes Leben lang hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als normal zu sein. Von mir aus so gequält wie Peter und Lucy, aber normal. Fähig, einigermaßen in der Außenwelt zurechtzukommen, die einfachsten Dinge zu genießen. Einen strahlend schönen Morgen. Den Gruß eines Freundes. Ein schmackhaftes Essen. Eine routinemäßige Unterhaltung. Ein Gefühl der Zugehörigkeit. Doch das war nicht möglich, denn ich wusste in diesem Moment, dass ich für immer dazu verdammt war, im Geist und im Handeln dem Mann näher zu stehen, den ich hasste und der mir Angst einjagte. Der Engel frönte all der mörderischen Lust am Bösen, die auch in mir schlummerte, und lebte sie aus. Er war ein Zerrbild aus einem Gruselkabinett, in dem ich dennoch mich selbst wiedererkannte. Ich hatte dieselbe Wut, dieselbe Begierde, dasselbe Böse in mir. Ich hatte es nur verdeckt, verdrängt, in den tiefsten Winkel geschoben, den ich finden konnte, und mit jeder nur denkbaren Wahnvorstellung, die ich finden konnte, so dass es, wie ich hoffte, für immer vergraben war.
    In der Anstalt unterlief dem Engel wirklich nur ein einziger Fehler.
    Er hätte mich töten sollen, als sich ihm die Gelegenheit bot.
    »Und deshalb«, flüsterte er mir ins Ohr, »bin ich hier, um den Fehler wettzumachen.«
    »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Lucy. Sie starrte auf die Akten, die sich über ihrem Schreibtisch ausbreiteten, dem Mittelpunkt ihrer behelfsmäßigen Untersuchung. Peter lief seitlich davon auf und ab und versuchte offenbar, in alle möglichen widersprüchlichen Gedanken Ordnung zu bringen. Als sie sprach, sah er auf und legte den Kopf schief.
    »Wieso?«
    »Ich werde von hier abgezogen. Wahrscheinlich innerhalb der nächsten Tage. Ich habe mit meinem Vorgesetzten gesprochen, und er denkt, ich drehe bloß Däumchen. Es hat ihm von Anfang an nicht gepasst, dass ich herkomme, und er hat nur nachgegeben, weil ich darauf bestand. Seine Geduld scheint erschöpft zu sein …«
    Peter nickte. »Ich bleib auch nicht mehr lange«, sagte er. »Wie’s aussieht, jedenfalls.« Er erklärte nicht, wieso, sondern fügte nur hinzu: »Aber Francis bleibt da.«
    »Nicht nur Francis«, sagte Lucy.
    »Das stimmt allerdings. Nicht nur Francis.« Er schwieg einen Moment. »Glauben Sie, er hat Recht? Ich meine, was er über den Engel gesagt hat. Dass er jemand ist, auf den wir nicht kommen würden …«
    Lucy holte tief Luft. Fast im Atemrhythmus ballte sie die Hände und streckte sie wieder, ballte sie und streckte sie, so wie jemand kurz vor einem Wutausbruch krampfhaft versucht, sich zu beherrschen. In einer Institution, wo ständig so viele Menschen allen möglichen Emotionen freien Lauf ließen, war Selbstbeherrschung beinahe etwas Exotisches. Doch Lucy schien eine Art selbst auferlegte Buße mit sich herumzutragen, und als sie zu Peter aufsah, schlug ihm ihr aufgewühltes, gequältes Innere wie Wogen entgegen.
    »Ich komm damit nicht klar«, sagte sie ruhig.
    Er antwortete nicht, denn er wusste, dass sie sich noch näher erklären würde.
    Lucy sank schwer auf den Holzstuhl und stand fast ebenso schnell wieder auf. Sie lehnte sich vor und packte die Kanten der Schreibtischplatte, als gäbe ihr das gegen die Böen, die an ihr zerrten, Halt. Als sie zu Peter hinübersah, war er sich nicht sicher, ob er in ihren Augen eine mörderische Strenge erblickte oder etwas anderes.
    »Der Gedanke, hier drinnen einen Vergewaltiger und Mörder zurückzulassen, ist einfach unerträglich. Ob nun der Engel und der Mann, der die anderen drei Frauen getötet hat, ein und derselbe ist oder nicht – und ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass er es ist –, läuft es mir kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke, ihn hier einfach so zurückzulassen.«
    Wieder sagte er nichts.
    »Ich mach das nicht«, sagte sie. »Ich kann nicht.«
    »Und wenn Sie nun gezwungen werden, Ihre Sachen zu packen?«, fragte Peter.

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