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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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keinem geritten.
    Seine Aufmerksamkeit schwand kurz, dann richtete er sie auf das leere Glas. Er beugte sich etwas vor, sodass er den Krug erreichen konnte, schenkte sich ein weiteres Glas ein und trank einen ausgiebigen Schluck, ehe er mit einem tiefen Seufzen wieder auf den Stuhl zurücksank.
    »Neun«, murmelte er, und seine Augen verfinsterten sich. »Der Dreckskerl.«
    Ich wusste, dass er nicht mehr über William redete. In den vergangenen zwei Tagen hatte er nur über zwei Dinge gesprochen: Erinnerungen an William …
    Und Carl.
    Abermals verlagerte ich das Gewicht, straffte leicht den Rücken, war plötzlich aufmerksam. Die letzten Tage hatte ich mich ähnlich wie Borund in einem Zustand des Entsetzens durch das Haus bewegt. An diesem Morgen hatte sich etwas verändert. Ich hatte einen Einfall gehabt. Allerdings wusste ich nicht, ob Borund ihn gutheißen würde.
    »Dieser verfluchte Dreckskerl«, zischte Borund. »Vincent, Sedwick, Terell, Markus … alle tot. Unfälle, von wegen.« Er trank einen weiteren Schluck. »Carl muss Einhalt geboten werden.«
    Ich trat vor, zögerte einen Atemzug und sagte dann kalt: »Ich kann es tun.«
    Erst schien er mich nicht zu hören, heftete den Blick wieder starr an die kahle Wand. Dann schaute er beinahe erschrocken auf. Doch der Ausdruck verschwand rasch und ging in nüchterne Überlegung über – in die Miene eines Händlers, der Möglichkeiten, Vorteile und Risiken abwog.
    Auch das hielt nicht lange an. Die nüchterne Überlegung des Händlers verwandelte sich langsam in finstere Wut. Eine Wut, die ich kannte. Es war dieselbe Wut, die mich am Siel erfasst hatte, als ich mich zum letzten Mal auf die Suche nach Blutmal begab, dieselbe Wut, die ich auf der Straße im mittleren Kreis empfunden hatte, als Borund mich von der Jagd auf den Mann zurückpfiff, der William verletzt hatte.
    »Du kannst ihn töten? Ohne gesehen zu werden?«, fragte er.
    »Ich brauche ein wenig Zeit. Ich muss mich auf seine Spur setzen, sein Verhalten beobachten. Aber ich kann es tun, ja.«
    Etwas zwischen uns veränderte sich. Die letzten Monate hatte er sich nicht entscheiden können, ob er mir befehlen oder mich bitten sollte, dies und das für ihn zu tun; er hatte in einem Moment mit mir gelacht und gescherzt und sich im nächsten gefragt, ob eine Leibwächterin notwendig und den Aufwand wert sei. Es war ein unbeholfenes und beunruhigendes Verhältnis gewesen. Er hatte nicht gewusst, ob er mich als Familienangehörige wie William oder als Dienerin behandeln sollte.
    Nun jedoch, als er mich musterte, sah ich, wie seine Unsicherheit schwand. Er sah mich nun als das, was ich war: als einen Dolch, eine Waffe, ein Werkzeug.
    Doch zur Familie würde ich nie gehören.
    Ein Teil von mir empfand Bedauern, das aber rasch von Zorn erstickt wurde. In diesem Augenblick wollte auch ich Carl tot sehen.
    »Dann tu es«, sagte Borund, und diesmal war seine Stimme nicht undeutlich.
    Ich straffte die Schultern, legte die Hand auf meinen Dolch.
    Ich hätte es ohnehin getan, ganz gleich, was Borund gesagt hätte.
    Aber es fühlte sich gut an, seine Zustimmung zu haben.

    Die nächsten zwei Wochen folgte ich Carl und seinen Männern, prägte mir die Schänken ein, die er gerne besuchte und die Straßen, die er nahm, um zu seinen Lagerhäusern und zum Kai zu gelangen. Sein Haus lag hinter den ersten Mauern im Wohnviertel. Anfangs hielt ich gut fünfzig Schritte Abstand und blieb gerade nahe genug, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Es war nicht schwierig, ihm auf den Fersen zu bleiben; er hatte immer mindestens zwei Männer an der Seite, wie in jener ersten Nacht, als ich ihn vor Borunds Schänke gesehen hatte. Die beiden Männer waren Leibwächter wie ich. Abschaum. Nach einer Weile erkannte ich, dass sie nicht so wachsam waren, wie man es auf dem Siel lernte, und so wagte ich mich näher heran. Nicht nahe genug, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, doch um zu erkennen, dass es mir nicht gelingen würde, Carl auf der Straße, bei den Lagerhäusern oder am Kai zu töten. Jedenfalls nicht, ohne gesehen zu werden.
    Damit blieb nur eine Möglichkeit: sein Haus.
    Als ich am Ende eines dieser Streifzüge zu den Toren von Borunds Haus gelangte, sah ich, wie Avrell das Anwesen durch den Nebeneingang zum Garten verließ. Sein Blick schweifte prüfend über die nächtliche dunkle Straße, doch er sah mich nicht. Dann zog er sich die Kapuze über den Kopf und ging mit raschen Schritten in Richtung Altstadt.
    Verwundert

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