Die Aufrichtigen (German Edition)
das Wichtigste Bedürfnis des Menschen überhaupt. Warum steht keiner auf und gibt zu, wie es damals wirklich war? Aus Scham, aus Reue? Nein, weil man die ungeschriebenen Regeln nicht verletzt, weil man unser System bis ins Mark erschüttern würde, wenn man es ausspräche!«
»Das Dritte Reich?«, fragte Dr. Albertz, der sofort wußte, was der Professor meinte.
»Ja, das Dritte Reich. Was wurde nicht alles darüber geforscht und geschrieben! Aber noch immer ist es ein Tabubruch, die offizielle Version des Geschehens in Frage zu stellen, heute noch, fast siebzig Jahre danach!«
»Was regst du dich so auf, Ernst. Du weißt es, ich weiß es, die anderen werden es früher oder später auch herausfinden«, sagte Dr. Albertz.
»Das Verhalten der Kirche im Weltenbrand war nichts weiter als entsetzlich konsequent, wenn man bedenkt, dass das Religiöse überleben will.«
»Eine liebenswürdige Art der Konsequenz, nicht wahr«, spottete Dr. Albertz mit hochgezogener Augenbraue.
»Lass mich noch einmal im Jahr 1870 beginnen«, führte der Professor aus. »Die Tage der römischen Kirche als Nachfolgerin des Imperium Romanum waren gezählt. Ganz Europa war voll von einer antikirchlichen und vielleicht sogar antireligiösen Gesinnung. Die Staaten taten alles, um die Macht der Kirche in die Schranken zu weisen. In dieser Zeit schien es, als erkenne man, wie gefährlich die Religion ist, wie abstoßend der Glaube an einen eifersüchtigen Gott, der seinen eigenen Sohn hinschlachten ließ, um die Menschen von der lächerlichsten aller Sünden zu befreien: der Erbschuld! Ein Mann isst die falsche Frucht und deshalb werden all die Milliarden seiner noch so entfernten Nachfahren mit dem Zorn Gottes belegt! Das ist so krankhaft, dass sich jeder anständige Mensch schämen sollte, so einen widerlichen Unsinn seinen Kindern zu erzählen.«
»Ja ja, es hat schon seinen Grund, dass die Menschen als Säuglinge getauft werden und dass der Religionsunterricht ein fester Bestandteil der Schulbildung ist, gerade bei den ganz Kleinen. Nur die frühe Indoktrination wirkt nachhaltig genug, um die Leute ein Leben lang zu infizieren.«
Der Professor sah ihn einen Augenblick aufmerksam an, ehe er fortfuhr.
»Papst Pius XI. muss die Chance gewittert haben, die Kraft, das Charisma. Wie sonst hätte er einen Mann wie Mussolini unterstützen können, einen radikalen Außenseiter ohne Überlebenschance nach der Matteotti - Affäre.«
»Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, die mindestens ebenso plausibel ist, wie das politische Kalkül«, warf Dr. Albertz ein.
»Du meinst, dass er selbst Faschist gewesen ist?«, fragte der Professor.
»Man will uns glauben machen, dass die Völker Europas vom Faschismus und Nationalsozialismus verführt worden sind, dass man sie durch Terror eingeschüchtert und zum Mitmachen gezwungen hat, dass ein paar wenige, besonders verbrecherische Leute am Werk waren und die anderen praktisch nichts wussten. Du weißt, dass das nicht wahr ist. Die Menschen haben ganz grundsätzlich von diesen Regimen profitiert und stimmten im Wesentlichen mit der Staatsdoktrin überein, jedenfalls soweit sie nicht zu den verfolgten Minderheiten zählten. Ich glaube sogar, dass ihnen das Töten, der Krieg und die massenhafte Vernichtung des unwerten Lebens Freude bereitet haben müssen, jedenfalls bis das Blatt sich wendete und der Krieg ins eigene Land einfiel. Ein jeder durfte endlich das bisschen Zivilisation in sich abschütteln und im Blut der Schwachen baden. Die Sprache des Faschismus unterscheidet sich nur wenig von der Sprache des Religiösen. Die Nazis waren wie die Christen schnell bei der Hand, wenn es das Schwert zu ergreifen galt, um die vermeintliche Glücksbotschaft in die Ungläubigen und Abtrünnigen hinein zu prügeln. Warum soll Papst Pius XI. bitteschön kein Faschist gewesen sein? Weil Päpste keine Faschisten sind? Weil man so etwas nicht denken und schon gar nicht sagen darf? Gut, dann erkläre mir, was ist ein Mann, der den beiden ekelerregendsten Diktatoren aller Zeiten zur Macht verholfen hat?
Der Professor schwieg.
»Ich weiß«, sagte er nach einer Weile, »ich habe es mein Leben lang versäumt, mich mit dieser Geschichte zu beschäftigen. Ich weiß, dass ich es vermocht hätte, aber ich blieb in der Vergangenheit. Kannst du dir vorstellen, dass ich Angst habe vor dem, was ich hätte herausfinden können? Verstehst du, dass ich fürchtete, der Schrecken könnte so groß sein, dass er nicht zu ertragen
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