Die Aufrichtigen (German Edition)
es zu allem gekommen war. Wie aber sollte Gott ihm glauben, wenn er sich als Betrüger vor den Richterstuhl schlich? Und mochte es auch sein, dass Gott sich an solchen Kleinigkeiten nicht störte und sogar Kaiser Konstantin, den getauften Sohnmörder bei sich aufnahm – seine Frau, das Beste, was ihm je passiert war, seine Frau, Maria Spohr, würde ihm unter solchen Umständen nicht einmal ins Gesicht sehen.
Inzwischen hatte der Professor den Bahnhofsvorplatz erreicht. Hier, unter all den Menschen, würde dieser schreckliche Mensch ihm nichts anhaben können. Der Professor war erschöpft. Mit der Anspannung wich die Kraft aus seinem Körper, er musste sich an einer Laterne festhalten. Leute kamen herbei und wollten helfen, einige stützten den verwelkten Leib. Der Professor aber sah keine helfenden Hände, seine überhitzte Fantasie gaukelte ihm Klauen der Höllenwächter vor, die vom unteren Gefilde ihres Reiches nach oben griffen, um noch ein paar der aus dem Limbus vertriebenen Kinderseelen zu erhaschen. Er bäumte sich auf und lachte irre. Die Leute wichen zurück. Er stand an der Schwelle des Wahnsinns – auf welcher Seite wusste er längst nicht mehr.
In seiner Manteltasche war immer noch der Schließfachschlüssel. Er musste die Papiere holen, die er hier verwahrt hatte, um nicht zu riskieren, dass sie dem Pater in die Hände fielen. Seine Arbeit sollte ihn überdauern. Wie ein Schatten huschte der Professor die Treppe zu den Schließfächern hinab. Das gelbe Licht des Kellers brannte in seinen müden Augen. Aus dem Bahnhofs-WC drang beißender Gestank. Da packte den Professor die Angst. Er war ganz allein hier unten, nicht einmal die Geräusche des Bahnhofs konnte man hören. Ob sein Verfolger seine Fährte wieder aufgenommen hatte, wie ein Raubtier, das die Beute nicht mehr verliert, wenn es einmal Witterung aufgenommen hat? Ganz fern tönte oben eine Durchsage, ein Gong, dann surrten nur noch die Neonröhren.
Es war ihm doch niemand gefolgt, niemand konnte ahnen – doch halt! Wie gern wollte der Professor sich betrügen! Wie gern wollte er glauben, hier in Sicherheit zu sein! Doch das hieß noch lange nicht, dass der Fürchterliche nicht spielend leicht seinen Weg nachvollziehen konnte. Wie anders als mit dem Zug sollte ein so alter Mann denn in eine so ferne Stadt kommen? In seinem Entsetzen verbarg sich der Professor hinter einer Säule. Von hier aus sah er die zweite Treppe, die auf der anderen Seite des langen Flures nach oben führte. Diese Treppe! Führte sie nicht ebenso gut hinauf wie — hinab? Was, wenn der fremde Mann diese Treppe benutzte? Wäre er zu seinem Schließfach gegangen, hätte er dieser Treppe den Rücken gekehrt, ja er hätte sie nicht einmal bemerkt!
Dem Professor gefror das Blut in den Adern. Auf jener Treppe erschienen plötzlich zwei Füße, große Männerfüße in grobem Schuhwerk. Er presste sich an die Säule, weil er ahnte, nein wusste, wem diese Füße gehörten! Wie eine Raubkatze hatte der Widersacher nur ein grausames Spiel mit ihm getrieben, hatte ihn glauben gemacht, einen anderen Weg einzuschlagen, damit er sich in Sicherheit wiegte. Es genügte ihm nicht, ihn einfach zu töten – er wollte ihn brechen!
In dem Augenblick, da die Füße sich in Bewegung setzten und die Treppe langsam hinabstiegen, überkam den Professor der unwiderstehliche Drang zu urinieren. Es wären nur wenige Schritte zu dem stinkenden Bahnhofsklo gewesen. Doch dorthin führte kein Weg. Der Professor hätte seine Deckung verlassen, ein 50 Cent-Stück in den Automaten werfen und die Schranke passieren müssen. Er wäre gefangen gewesen. Der Entsetzliche hätte leichtes Spiel mit ihm gehabt. Egal wie, egal wo — es durfte nicht in einem Bahnhofsklo geschehen! Der Professor war nahe daran, sich zu übergeben. Doch er schluckte den ekelhaften Saft aus seinem Magen hinunter. Die Notdurft länger zurückhalten aber vermochte er nicht. Schon wurden die Beine des Herabsteigenden sichtbar, schon sah er seine Knie. Die Panik nahm dem Muskel die Spannung. Warm floss die Notdurft in die Hosenbeine, ergoss sich über die Schuhe, ehe sich die Lache auf dem gekachelten Fußboden ausbreitete. Blut hätte nicht heißer fließen können. Professor Ernst Adeodatus Spohr stand da, an die Säule gepresst, sah abwechselnd auf die Beine des Herabsteigenden und auf seine eigenen besudelten Füße. Er weinte vor Furcht und Scham.
Es war ein harmloser Mann, der die Treppe herunterkam und nun an der Säule vorbei
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