Die Augen
Auftragsporträt der Ehefrau eines Seattler Geschäftsmanns, an dem er seit Tagen arbeitete, stand zwar auf der Staffelei, aber allem Anschein nach hatte er an diesem Tag Pinsel und Palette noch nicht in die Hand genommen.
»Ich habe mir heute freigenommen«, verkündete er, ehe sie ihn fragen konnte. »Nimm dir einen Kaffee – er ist ganz frisch.«
Maggie goss sich einen Kaffee ein und setzte sich dann ihm gegenüber. Stirnrunzelnd betrachtete sie sein Engelsgesicht. »Man sieht es dir zwar nicht an, aber ich könnte schwören, dass du auch die ganze Nacht auf warst.«
»Ich habe nicht geschlafen«, gab er zu. »Habe noch relativ spät bei dir angerufen und mir gedacht, dass du wohl auf der Polizeiwache bist.«
»War ich auch. Wir hatten kurz vor Mitternacht eine Art Kriegsrat und sind am Ende alle bis zum Morgengrauen geblieben.« Kurz und knapp setzte sie ihn über das ins Bild, was geschehen war, seit sie zuletzt miteinander gesprochen hatten. Wie gewöhnlich war sie sich nicht sicher, wie viel er wusste, ohne dass sie es ihm sagen musste. Sie schloss: »Ich bin vor ein paar Stunden für ein Nickerchen und eine Dusche nach Hause gefahren, wie die meisten anderen.«
»Die meisten?«
»Andy ist immer noch auf, glaube ich. Und Quentin und Kendra wirkten immer noch energiegeladen, sie waren noch hellwach, als ich gefahren bin.«
Beau, der die meisten Detectives, mit denen Maggie zusammenarbeitete, zumindest dem Namen nach kannte weil sie von ihnen erzählte, nickte und sagte: »Nach allem, was du über Andy erzählt hast, wundert mich das nicht. Was die beiden FBI-ler angeht, für die ist außergewöhnliche Ausdauer vermutlich eher die Regel als die Ausnahme.«
Maggie betrachtete ihn nachdenklich und sagte: »Du hast mir nie richtig erklärt, warum du Bishop abgesagt hast, als er dich vor ein paar Jahren aufgefordert hat, bei ihm anzufangen.«
»Habe ich nicht?«
»Nein. Und versuch jetzt bloß nicht, mir auszuweichen. Quentin und Kendra haben nichts gesagt, aber ich möchte wetten, sie wissen seit Tagen von der Verbindung zwischen dir und mir. Du hast selbst gesagt, Bishop hätte dir mehr oder weniger erzählt, dass er und seine Agenten versuchen wollten, die Hellseher außerhalb der Einheit im Auge zu behalten, falls sie mal jemanden bräuchten.«
»Das hat er gesagt.«
»Also wissen sie wahrscheinlich von dir, seit sie hier angekommen sind.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie bekommen von mir Bestnoten für Diskretion. Soweit ich es beurteilen kann, haben sie niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon gesagt, nicht mal John.«
»Wie ich Bishop kenne, hält er Diskretion für unabdingbar. Eins seiner Ziele war immer, diese Einheit aufzubauen und eine solide Erfolgsbilanz vorlegen zu können, lange bevor die Öffentlichkeit etwas davon erfährt.«
Maggie nickte. »Das ist ja auch sinnvoll. Also, warum wolltest du nicht bei ihnen anfangen?«
»Ich habe keinen Juraabschluss.«
»Den bräuchtest du auch nicht, wenn sie dich als fachlichen Berater für die Außendienstler führen würden. Das war doch noch eins von Bishops Zielen, oder? Ein Supportteam auf die Beine zu stellen aus Leuten, die übersinnliche Fähigkeiten und andere Talente haben. Ich würde sagen, da wäre ein Zeichner ganz nützlich, vor allem einer mit einem so bekannten Namen, der eine hervorragende Tarnung für jedes Schnüffeln im Auftrag des FBI wäre.«
»Du bist zu viel mit Cops zusammen. Du denkst allmählich genau wie die.«
»Lenk nicht ab. Warum hast du nein gesagt? Die Arbeit hätte dir bestimmt Spaß gemacht.«
Beau zuckte mit den Achseln. »Sagen wir einfach, es war der falsche Zeitpunkt.«
Maggie runzelte die Stirn. »Es war nicht wegen mir, oder?«
Ehrlich wie immer – jedenfalls, wenn er in die Enge getrieben war – sagte Beau: »Nicht nur. Jedenfalls bist du diejenige, die Bishop gerne in seinem Team gehabt hätte. Eine Empathin mit Zeichentalent, die bereits daran gewöhnt ist, mit der Polizei zu arbeiten? Perfekt. Aber ich wusste, dass du hier eine ziemlich große Aufgabe zu Ende bringen musst, und weil ich das wusste, wusste er es auch.«
»Er muss ein ziemlich machtvoller Telepath sein.«
»Oh, das ist er. Heute noch mehr, wie ich höre, seit er sich mit einer Frau zusammengetan hat, die auch sehr starke übersinnliche Fähigkeiten hat. Er hat sie geheiratet.«
»Und woher hast du das? Aus dem Übersinnlichen Newsletter? Den bekomme ich nämlich nicht.«
Beau grinste, weil sie so verdrossen klang.
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