Die Augen
»Ich sage dir doch immer wieder, dass es im Leben jede Menge Verbindungen gibt.«
»Ja, klar. Dieses ›Um sechs Ecken kennt jeder jeden‹-Zeug?«
»Genau. Ich kenne also dich – und somit auch jeden, den du kennst. Es funktioniert.«
Maggie war sich nie sicher, ob Beaus interessante Theorien überhaupt Theorien waren – oder universelle Fakten, die ihm schlicht und ergreifend deshalb klar waren, weil er einen besseren Draht zum Universum hatte.
»Ähm … okay.«
Er grinste erneut. »Mach dir nichts draus. Also, was hast du heute vor?«
»Ich will in einer Stunde noch einmal mit Ellen Randall sprechen. Ich will nach Hollis sehen, um sicherzugehen, dass es ihr gut geht. Dann zurück zur Wache und die anderen treffen, mal sehen, was sie darüber rausfinden konnten, ob es in Tara Jamesons Leben eine mögliche Verbindung zu dem Mann gibt, der sie entführt hat.«
»Du solltest nicht allein unterwegs sein.«
»Ich arbeite am besten allein, das weißt du.«
»Nicht diesmal, Maggie. Diesmal ist es gefährlich für dich, allein zu arbeiten.«
»Ich bin vorsichtig.«
»Ach ja?«
Sie zauberte ein, wie sie hoffte, überzeugendes Lächeln hervor. »Natürlich bin ich das. Außerdem weißt du nur zu gut, dass es mir nichts nutzen würde, wenn ich mich verkrieche. Ich muss alles tun, was in meiner Macht steht, um diese Bestie aufzuhalten.«
»Ja. Aber nicht allein. Diesmal musst du alle Hilfen nutzen, die dir zur Verfügung stehen.«
»Ein paar davon sind überhaupt keine Hilfe.« Brütend sah sie auf ihren geschlossenen Skizzenblock. »Die Ironie dabei ist, dass ich – zumindest dieses Mal – hier bin, um dieses Ungeheuer aufzuhalten, dass aber meine Fähigkeit, die mir bislang geholfen hat, andere aufzuhalten, mir bei ihm kein Stück hilft. Ich kann ihn nicht sehen. Ich bin genauso blind wie seine Opfer.«
»Und dafür gibt es garantiert einen Grund.«
»Das Universum will mich triezen?«
Er lächelte. »Vielleicht. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass es da draußen einen echt kosmischen Humor gibt.«
»Wenn das so ist, dann ist es ein ziemlich merkwürdiger Humor, Beau. Das ist nicht witzig.«
»Nein. Aber da ist etwas, an das du immer denken musst, Maggie. So sehr du dich auch darauf konzentrierst, diesen Mann aufzuhalten – das Universum ist ein riesiges, komplexes Gebilde. Das Gewebe um uns herum besteht aus unzähligen Fäden, die zu komplizierten Mustern verwoben sind, und jeder Faden ist wichtig für das Ganze. Es geht nicht nur um ihn. Es geht auch um seine Opfer, oder um die Cops.«
»Oder um mich.«
Er nickte. »Oder um dich.«
Sie atmete tief ein, dann sagte sie trocken: »Danke, Meister.«
»Gern geschehen, kleiner Grashüpfer.«
Maggie musste lächeln. »Tja, ich werde natürlich die unermessliche Größe des Universums immer im Hinterkopf behalten, aber einstweilen muss ich in meiner kleinen Ecke des Universums weiterarbeiten. Irgendeinen Rat – diesmal?«
»Nach jedem Essen das Zähneputzen nicht vergessen.«
»Weißt du, du bist wirklich nicht halb so witzig, wie du glaubst.«
»Nein? Ach je. Man versucht eben sein Bestes.«
»Man versagt eben.«
»Du bist nur mürrisch, weil du den Übersinnlichen Newsletter nicht bekommst.« Sein Lächeln verblasste ein wenig. »Maggie? Ich hatte Recht mit John Garrett, stimmt’s?«
Sie stand auf und sah ihn eine Weile einfach nur an. Dann verzog sie den Mund und sagte: »Ja. Du hattest Recht.«
»Schicksal.«
»Schicksal. Bis dann, Beau.«
Nachdem sie fort war, saß Beau noch lange da und starrte ins Leere. Dann stand er so widerstrebend auf, dass jede Bewegung langsam und bedächtig war, und ging zu dem großen Gemälde, das, von einem schweren Stück Stoff verhüllt, an der Wand lehnte und nicht einmal Maggie aufgefallen war.
Beau stellte das Bild verhüllt, wie es war, auf eine zweite Staffelei und trat wieder zurück. Er versuchte, sich zu wappnen. Dann atmete er tief durch und enthüllte das Bild.
Ein emotional unbeteiligter Teil seines Verstandes registrierte die Maltechnik und die künstlerische Meisterschaft, sah und akzeptierte die Tatsache, dass dies zweifelsohne die beste Arbeit seines Lebens war. Doch das war nicht alles, was er sah. Er sah die verschwommenen, aber noch erkennbaren Gesichter und Gestalten von, wie er erkannte, gequälten Frauen in einer dunklen Hölle des Leidens. Mit ausgestreckten Armen flehten sie verzweifelt um Hilfe, die meisten mit leeren Augenhöhlen, die Münder weit aufgerissen.
Er sah die
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