Die Auserwählte
ich fand – befahlen, ich solle den Mund halten.
Am nächsten Morgen erklärte man mir, daß ich gehen könne und daß jemand auf mich warte.
Ich war zu überrascht, um etwas zu sagen; während ich den Korridor zwischen den Zellentüren hinunter zu einem Schreibtisch am Eingang der Wachstube des Reviers geführt wurde, überlegte ich fieberhaft, wer wohl auf mich warten könnte. Nicht nur das; wie hatte der oder die Betreffende mich überhaupt gefunden?
Es mußte Morag sein, schloß ich. Mein Herz vollführte einen freudigen Sprung bei dem Gedanken, doch irgendwie argwöhnte ich nichtsdestotrotz, daß ich mich irrte.
Einige Schritte, bevor ich die Wachstube betrat, sah ich, daß dem so war.
»Gottverdammt noch mal!« rief eine energische Frauenstimme. »Und ihr nennt euch Polizisten? Ihr habt ja nicht mal Knarren!«
Ich traute meinen Augen und Ohren nicht.
»Großmutter?« sagte ich ungläubig.
Meine Großmutter mütterlicherseits, Mrs. Yolanda Cristofiori, in ihrer ganzen einszweiundfünfzig großen, blond gefärbten, wettergegerbten texanischen Pracht und flankiert von zwei hochgewachsenen, doch eingeschüchtert wirkenden Männern in Anzügen und mit Aktenkoffern in der Hand, kehrte dem wachhabenden Sergeant, den sie gerade zusammengestaucht hatte, den Rücken und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.
»Isis, Darling!« rief sie. Sie kam mit ausholenden Schritten auf mich zu. »Du meine Güte, sieh dich doch nur mal an!« kreischte sie. Sie schlang ihre Arme um mich und hob mich hoch, während ich mich nach Kräften bemühte, ihre Umarmung zu erwidern.
»Großmutter…« sagte ich; mir war schwindelig, ich war schier überwältigt von der Überraschung und Yolandas Parfüm. Ich war so verblüfft, daß ich nicht einmal daran gedacht hatte, das Zeichen zu machen.
»Oh, es ist so schön, dich zu sehen! Wie geht es dir? Ist mit dir alles in Ordnung? Ich meine, haben diese Clowns dich auch gut behandelt?« Sie deutete mit einer ausholenden Geste auf die beiden Männer in Anzügen, die mit ihr am Wachtisch gestanden hatten. »Ich habe ein paar Anwälte mitgebracht. Möchtest du eine Beschwerde einreichen oder so was?« Sie setzte mich wieder auf dem Boden ab.
»Ich… nun, nein; ich bin, äh – « stammelte ich. Das Gesicht meiner Großmutter Yolanda war weniger faltig, als ich es erinnerte, aber es war noch immer mit Schminke bemalt. Ihr Haar mutete wie gesponnenes Gold an, nur härter. Sie trug über und über verzierte Cowboystiefel aus Alligatorleder, bestickte Jeans, ein Seidenhemd in einer Art Strichcode-Karo und eine kleine, mit Perlen bestickte Wildlederweste. Yolandas Anwälte schauten mit einem gekünstelten Lächeln zu uns herüber; der wachhabende Sergeant, mit dem sie gesprochen hatte, schien wütend.
»Gut«, sagte er. »Sie beide kennen sich?« Er wartete nicht auf eine Antwort. Er zeigte mit einer Hand auf die Tür, während er mit der anderen nach unten griff, meinen Seesack hervorholte und ihn auf den Wachtisch knallte. »Raus«, befahl er.
Yolanda faßte mich entschlossen bei der Hand. »Komm, Darling; wir werden uns bei einem Margarita darüber unterhalten, ob wir Anzeige gegen diese Idioten erstatten. Haben sie dir zu essen geben? Hast du gefrühstückt? Wir gehen erst mal in mein Hotel; die werden dir was machen.« Sie zog mich mit sich zur Tür, während sie über ihre Schulter zurück zu den Anwälten schaute. »Greif dir die Tasche von dem Kind, George.«
*
Großmutter Yolanda kam zum ersten Mal im Sommer 1954 mit ihrem ersten Mann, Jerome, nach High Easter Offerance. Sie war achtzehn; er war zweiundsechzig und hatte Krebs. Er hatte gerade irgendeine Art Ölgesellschaft verkauft und beschlossen, einige seiner Millionen dafür auszugeben, durch die Welt zu reisen, Krebskliniken in Augenschein zu nehmen und seinem jüngst erwachten Interesse an Sekten und Kulten im allgemeinen zu frönen (ich vermute, im strikten Sinne sind wir ein Kult, obwohl uns die Leute zu jener Zeit als eine christliche Sekte betrachteten; es dauerte etwas, bis dieses Mißverständnis aufgeklärt war). Als Yolanda und Jerome nach ein paar Wochen wieder weiterreisten, war Yolanda schwanger. 1959 kehrte sie mit einem anderen Ehemann und ihrem ersten Kind, Alice, zur Gemeinde zurück, um am zweiten Fest der Liebe teilzunehmen (das erste hatte bedauerlicherweise keine Schaltjährigen hervorgebracht, galt aber ansonsten unter allen Beteiligten als großer Erfolg), und von da an besuchte sie uns alle paar Jahre
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