Die Außenseiter
durchdringende Schmerzenslaut des Thranx war der großen Raubkatze völlig fremd und schrillte ihr in den empfindlichen Ohren. Die fremdartigen Vibrationen hallten ihr noch durch den Kopf, als sie auf allen vieren landete, herumfuhr und in den Regenwald flüchtete.
Außer Atem hielt Desvendapur das Schneidewerkzeug in der einen Echthand, während er mit der anderen und einer Fußhand seine Verletzung untersuchte. Obwohl Blut und andere Körperflüssigkeiten aus der Wunde drangen, war sie nicht tief. Des packte sein behelfsmäßig zusammengestelltes Erste-Hilfe-Set aus, desinfizierte die Wunde und stopfte das Loch mit schnell trocknendem Synthetikchitin. Glücklicherweise hatte der Jaguar nicht mit aller Kraft zugebissen, sonst wäre Desvendapurs Bein nun vielleicht gebrochen. Das wäre in der Tat ein ernstes Problem gewesen, wenn auch für einen sechsbeinigen Thranx nicht ganz so ernst wie für einen zweibeinigen Menschen. Zwar hätte er das Bein notdürftig schienen können, doch war es ihm mehr als recht, dass der Angriff so ein glimpfliches Ende genommen hatte.
Eigentlich konnte er gar nicht von einem Angriff sprechen. Der Jaguar hatte nur von ihm kosten wollen. Doch in seinem Gedicht würde Desvendapur den Vorfall aus dramaturgischen Gründen als Angriff schildern. Für einen Dichter war die Übertreibung ein ebenso legitimes Werkzeug wie Betonung und Sprechrhythmus. Wie bei allem, was er seit seiner Flucht aus dem Stock erlebt hatte, würde er auch aus der Begegnung mit der großen Katze kreativen Profit schlagen. Doch dieses Mal, ganz anders als bisher, ausnahmsweise also, verspürte er nicht das Verlangen, das gleiche Erlebnis noch einmal zu durchleben.
Das nächste große Raubtier würde vielleicht versuchen, den Geschmack des achtbeinigen Außerirdischen zu überprüfen, indem es ihm ein Stück aus dem Kopf biss anstatt aus dem Bein.
13
Cheelo wurde immer zuversichtlicher, der Aufmerksamkeit derer, die diesen Teil des Regenwaldes überwachten, entgehen zu können. Er schluckte den letzten Bissen seines Abendessens herunter und bereitete sich darauf vor, sich schlafen zu legen. Ein Stadtbewohner hätte den gewaltigen Ast, der aus dem unteren Teil des Baums wuchs, nur mit Mühe erklimmen können; Cheelo hingegen hatte in seinem Leben mehr als genug Erfahrung darin gesammelt, Hindernisse zu überwinden, und zwar auf der Flucht vor Wächtern, alarmierten Behörden oder beraubten Händlern. Die vergleichsweise harmlose Kletterpartie auf den Ast hinauf bereitete ihm keine Probleme.
Oben angekommen, klemmte er seinen Rucksack in eine Mulde zwischen zwei abzweigenden Nebenästen und breitete seine dünne Notfalldecke auf dem Hauptast aus. Hier oben war er vor den Waldbewohnern, die nachts auf Beutezug gingen, sicherer als auf dem Boden. Er setzte sich hin und nahm eine Mahlzeit aus Früchten ein, ergänzt durch Vitaminpillen und dehydrierte Kost. Die Trockennahrung reagierte dankbar auf Cheelos von langer Erfahrung geprägte Art der Zubereitung - und die Zugabe von ein wenig Wasser.
Den Sonnenuntergang konnte Cheelo nicht beobachten, dazu war die Sonne zu rasch hinter den Wolken und Bäumen verschwunden. Doch konnte er von seinem Hochsitz aus das Schauspiel beobachten, das ihm die Papageien und Aras, die Affen und Echsen darboten, und er lauschte dem allgegenwärtigen Brummen hyperaktiver Insekten. Zwei schwarzgelbe Frösche leisteten ihm auf dem Ast Gesellschaft, jeder von ihnen nicht größer als sein Daumen. Der Regenwald war ein nicht enden wollender Vierundzwanzig- Stunden-Zirkus, in dem man nie wusste, welcher Akt als Nächstes präsentiert werden würde.
Das bedeutete indes nicht, dass Cheelo die Ruhe bewahrte, als das eineinhalb Meter große Insekt zwischen den Bäumen hervortrat und sich Cheelos Baum näherte.
Zuerst glaubte Cheelo zu halluzinieren, was mitten in den Tropen nicht selten vorkam. Doch abgesehen von dem Rieseninsekt wirkte alles andere - die üppige Vegetation, die Wolken, die Gerüche und Geräusche - völlig normal. Halluzinationen wirkten sich normalerweise nicht nur auf einen Sinn aus.
Als das Wesen sich näherte, sah Cheelo, dass es, obwohl es insektenähnlich aussah, kein Insekt sein konnte, denn es hatte acht Gliedmaßen statt der obligatorischen sechs; nur Spinnen hatten acht, doch sah das Wesen auch nicht wie eine Spinne aus. Noch andere Details unterschieden es von einem herkömmlichen Insekt. Am Ende der vier vorderen Gliedmaßen saßen weder Haken noch Klauen, sondern
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