Die Bekenntnisse der Sullivan-Schwestern
ganzen Familie lässt. Weißt du, es gibt unterschiedliche Sichtweisen auf die Vergangenheit.«
Ich weiß. In Janes Augen gibt es die Sichtweise, die Dich gut aussehen lässt, und dann gibt es die Wahrheit.
Kurz darauf hast Du etwas gesagt, das mir noch immer einen Stich versetzt, wenn ich daran denke.
»Aber du, Liebes.« Du hast meine Hand getätschelt. »Wenigstens du bist ein vorbildliches Enkelkind.«
Jetzt kennst Du die Wahrheit. Du hast Dich völlig in mir getäuscht. Ich bin das schlimmste Enkelkind von allen.
Wallace schlenderte auf Socken durchs Haus, seine schmutzigen Arbeitsschuhe hatte er an der Hintertür stehenlassen. »Ich wollte den Damen nur Hallo sagen, bevor ich ins Gartencenter fahre. Soll ich dir was mitbringen, Lou?«
»Nein, nichts, kauf bloß, was du brauchst. Aber bevor du gehst, frag Bernice, ob sie irgendetwas von Eddie’s benötigt.«
»In Ordnung.« Als er die Bibliothek verließ, grüßte er kurz in meine Richtung. Es war Wallace’ letzter Gruß.
Ein paar Minuten später ging ich durch die Küchentür nach draußen. Und jetzt erzähle ich ganz genau, was als Nächstes passierte.
Da ich Wallace’ alten Cadillac in der Garage knattern hörte, ging ich in diese Richtung, um mich noch einmal von ihm zu verabschieden. Genau in dem Moment, als ich auf die Auffahrt trat, setzte der Wagen plötzlich zurück.
Die seltsame schwarze Magie in meinem Blut zog den Wagen in Richtung meines Körpers, zog ihn an wie ein Magnet.
Der Cadillac fuhr mich an.
Der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen. Wie üblich prallte ich ab. Ich ging zu Boden, aber ich konnte den Sturz mit den Händen abfangen. Ich schürfte mir den linken Knöchel auf, jedoch nicht so tief, dass es geblutet hätte.
»Alles in Ordnung, Wallace!«, rief ich. »Mir ist nichts passiert!«
Ich stand auf und klopfte mich ab. Ich schlug zweimal auf die Heckklappe, damit Wallace wusste, dass mit mir alles in Ordnung war. Dann lief ich um den Wagen herum zum Fahrerfenster.
»Tut mir leid, Wallace. Ich hoffe, ich hab dir keinen Schrecken eingejagt.«
Ich sah durch das Autofenster. Wallace’ Hände hielten das Lenkrad oben umklammert. Sein Kopf war an die Nackenstütze gelehnt. Seine Augen waren geöffnet, aber ausdruckslos und starr.
»Wallace?«
Ich klopfte ans Fenster. Er rührte sich nicht. Ich öffnete die Autotür. Sein Körper kippte mir entgegen.
Er war tot.
Wallace war tot. Ich hatte ihn umgebracht.
Aber das wusstest Du bereits. Du hast es die ganze Zeit gewusst.
Du hast am Küchenfenster gestanden und zugesehen.
Neun
Als ich nach Hause kam, warf ich mich auf Gingers Bett und heulte. Ich konnte ihr nicht den wahren Grund sagen, warum ich so aufgelöst war. Sie glaubte, ich sei traurig, weil Wallace tot war, und das stimmte auch. Ich war traurig und schockiert. Aber ich fühlte mich auch schuldig. Ich hatte Angst, jemandem irgendetwas darüber zu erzählen, was wirklich vorgefallen war. Ich hatte Angst, niemand würde es verstehen oder mir glauben oder es ernst nehmen. Und andererseits hatte ich Angst, dass es jemand ernst nehmen würde.
Du hättest irgendwas sagen können. Hast Du aber nicht. Ich fragte mich, ob Du überhaupt irgendetwas gesehen hattest. Mittlerweile frage ich mich nicht mehr.
Ginger rieb mir über den Rücken und versuchte mich zu trösten. »Armes Schätzchen. Nimm es nicht so schwer. Wallace war alt. Jeder muss irgendwann sterben.«
»Der Arzt sagt, es war ein Schlaganfall«, erklärte uns Daddy-o. »Blutgerinnsel im Kopf, sehr plötzlich. Niemand hätte es verhindern können.«
Das sagten alle: Niemand hatte Schuld daran. Aber ich kannte die Wahrheit. Es war meine Schuld. Der Schock, dass er mich angefahren hatte, war der Auslöser für den Schlaganfall, an dem er gestorben war.
Es war genau, wie Cassandra gesagt hatte. Unsterblichkeit schützte mich vor Verletzungen, aber um mich herum bewirkte sie Zerstörung. Richtige Zerstörung. Tod.
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag in meinem Bett und lauschte auf den Verkehrslärm in der Ferne. Ein Müllwagen rumpelte die Straße hinunter. Keine Polizeihelikopter in dieser Nacht.
Ich spielte Wallace’ Tod nochmals in Gedanken durch, immer und immer wieder. Ich sah in Zeitlupe, wie der Wagen rückwärts aus der Garage rollte. Ich sah mich selbst über die Auffahrt laufen. Ich versuchte mich davon abzuhalten, auf den Asphalt zu treten, aber ich hatte keine Gewalt über meine Beine. Sie liefen immer weiter. Ich versuchte den Wagen
Weitere Kostenlose Bücher