Die bessere Hälfte - warum nur Frauen die Wirtschaft nach vorn bringen
nahm. Ihre Beziehungen innerhalb der Firma begannen sich zu verschlechtern, und sie hatte immer häufiger das Gefühl, ihrer Umgebung ausgeliefert zu sein. Dass sie die einzige Frau im Management war, verstärkte ihr Gefühl der Isolation nur noch weiter.
Da sie so wenig Zeit für ihre Familie hatte, erlebte sie bald auch eine allgemeine Sinnkrise; sie fragte sich, wie ihre Rolle als Finanzchefin zu dem passte, was sie als Lebenssinn definierte. Ihre hohe Position bereitete ihr nur wenig Freude, denn sie war viel zu erschöpft, um ihren Alltag genießen zu können. Sie selbst formuliert ihre damaligen Empfindungen folgendermaßen: »Ich hatte das Gefühl, unglaublich viel Verantwortung auf den Schultern zu tragen und schien die Dinge auch viel ernster zu nehmen als meine männlichen Kollegen. Außerdem fühlte ich mich elend, weil ich das aus den Augen verlor, was mich als Führungskraft immer motiviert hatte – die Entwicklung meiner Leute zu fördern und sie zu inspirieren.«
Im Frühjahr 2008, als die Wirtschaftskrise einsetzte, bereitete Jennifer sich gerade auf ein schwieriges Meeting mit einem Investor vor, mit dem ihre Firma ein Geschäft abschließen wollte. Sie arbeitete fast bis zur Erschöpfung, um fertig zu werden. Einige Mitglieder der Führungsmannschaft, die sie begleiten sollten, waren Experten auf den geheimnisvollen Fachgebieten, wo Jennifer der fachliche Hintergrund fehlte, deshalb war sie zuversichtlich, |107| dass sie sich bei den inhaltlichen Details auf sie verlassen konnte.
Der Investor eröffnete das Meeting mit einer Reihe unerwarteter Fragen, hauptsächlich zu dem weiteren finanziellen Umfeld. Während der Druck stieg, wurde ihr klar, dass einige Teammitglieder – sogar der CEO selbst – vor lauter Panik kaum noch in der Lage waren, zu antworten. Jennifer hatte geglaubt, dass sie ihr den Rücken stärken würden und musste nun feststellen, dass sie auf sich allein gestellt war. Die Tatsache, dass Kollegen, die sie seit zwanzig Jahren kannte, sich jetzt nicht geschlossen hinter sie stellten, rüttelte sie wach.
Das Meeting veränderte Jennifers Einstellung sich selbst und ihrer Arbeit gegenüber. Ihr wurde bewusst, welch hohen Preis ihr berufliches Engagement ihr selbst, ihrer Familie und ihrem Team abverlangte. Sie begann sich gegen die ihrer Ansicht nach unvernünftigen Anforderungen aufzulehnen und hörte auf, sich ständig unter Druck zu setzen. Sie erkannte, dass sie ihren eigenen Beitrag für die Firma deutlich ernster nahm als ihre Kollegen, und sie legte sich ein dickeres Fell zu.
Sie besann sich auf ihre eigenen Werte, hatte keine Probleme mehr, sie zu artikulieren und hörte auf, sich der Vision ihrer Vorgesetzten über das, was wirklich zählte, zu unterwerfen. Sie sagt hierzu: »Für die meisten dieser Männer ist es das Wichtigste und Größte, an die Spitze des Unternehmens zu gelangen. Ich hatte früher immer das Gefühl, auch so empfinden zu müssen, aber jetzt ist mir klar geworden, dass das Leben zu kurz ist. Ich will meine Arbeit genießen, nicht für zukünftigen Status leben. Das ist der Mühe einfach nicht wert.«
|108| Wert und Stress
Im Januar 2009 schrieb Dave Krasne, ein ehemaliger Banker bei Merrill Lynch, einen Leitartikel für die
New York Times
über die Bonuskultur. Krasne bemerkte, dass die Menschen, mit denen er an der Wall Street zusammengearbeitet hatte, glaubten, die – in den Augen anderer – vollkommene überzogene finanzielle Vergütung verdient zu haben, weil sie rund um die Uhr nur für ihre Unternehmen tätig waren. Nur riesige Summen, so schrieb er, konnten in den Augen der Mitarbeiter »die endlosen Tage rechtfertigen, die man bis in die Morgenstunden hinein mit Arbeit verbrachte, die endlosen Monate ohne einen einzigen freien Tag, den ständigen »Feueralarm« – weil ein Kunde etwas wollte, und zwar sofort, ob es nun 7 Uhr morgens oder 7 Uhr abends war –, der ständig für einen hohen Adrenalinspiegel sorgte. 10
Perfekt beschrieb Krasne den Druck und die Intensität, die den modernen Arbeitsplatz seit Mitte der Neunzigerjahre prägen. Durch die Entwicklung neuer Technologien waren Mitarbeiter rund um die Uhr verfügbar, und die Globalisierung tat ihr Übriges, um den Wettbewerbsdruck zu steigern. Mit einem Mal stellten die Menschen fest, dass sie länger und härter arbeiteten als seit den Anfängen der Industrialisierung, und zwar keineswegs nur in den luftigen Höhen des Investmentbankings. Unternehmen wurden verschlankt, und
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