Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
am Ärmel. Endlich erwacht er aus seiner Benommenheit und folgt mir. Als wir an dem Tisch vorbeigehen, verschwindet der Körper der Frau, sie existiert nur noch in meiner und in seiner Erinnerung. Wie mag es sein, jedes Mal, wenn man durch die eigene Angstlandschaft geht, jemanden töten zu müssen? Vielleicht werde ich es herausfinden.
Aber etwas wundert mich: Das sollen seine schlimmsten Ängste sein? Zwar haben die Enge und das Dach ihn in Panik versetzt, aber die Frau hat er ohne große Umschweife getötet. Es scheint, als würde die Simulation ihn nacheinander mit jeder seiner Ängste konfrontieren, aber viele scheint sie nicht entdeckt zu haben.
» Jetzt kommt’s«, flüstert er.
Vor uns ist eine dunkle Gestalt, sie wartet am Rand des Lichtkegels, in dem wir stehen. Wer ist das? Wer geistert durch Fours Albträume?
Der Mann, der aus dem Schatten auftaucht, ist groß und schlank, seine Haare sind sehr kurz geschnitten. Die Hände hat er auf dem Rücken verschränkt. Er trägt die graue Kleidung der Altruan.
» Marcus«, flüstere ich.
» Jetzt kommt der Teil«, sagt Four zittrig, » in dem du meinen Namen herausfinden kannst.«
» Ist er…« Ich blicke von Marcus, der langsam auf uns zukommt, zu Four, der vor ihm zurückweicht, und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Marcus hatte einen Sohn, der zu den Ferox ging. Er hieß… » Tobias.«
Marcus zeigt uns seine Hände. Um eine Faust hat er einen Gürtel geschlungen. Langsam wickelt er ihn ab.
» Das ist nur zu deinem Besten«, sagt er. Seine Stimme hallt gleich im Dutzend wider.
Ein Dutzend Marcusse drängen sich in den Lichtkegel, alle halten den gleichen Gürtel in den Händen, alle haben sie den gleichen stieren Blick. Sie blinzeln und ihre Augen werden zu schwarzen, leeren Höhlen. Die Gürtel schleifen über den Boden, der nun aus weißen Kacheln besteht. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Die Ken haben Marcus vorgeworfen, er sei grausam. Dieses eine Mal haben sie recht.
Four– Tobias– ist wie erstarrt. Er lässt die Schultern hängen, er scheint um Jahre gealtert und zugleich um Jahre jünger zu sein. Der erste Marcus holt weit aus, der Gürtel entrollt sich über seiner Schulter. Tobias weicht zurück, hält sich die Arme schützend vors Gesicht.
Ich überlege nicht lange, sondern stelle mich vor ihn. Der Gürtel peitscht auf mein Handgelenk und wickelt sich um meinen Arm. Ein scharfer Schmerz zieht sich von meiner Hand bis zum Ellbogen. Ich beiße die Zähne zusammen und zerre an dem Gürtel, so fest ich kann. Marcus lässt ihn los. Ich wickle ihn von meinem Handgelenk und halte ihn an der Schnalle.
Bei meinem Hieb hole ich so weit aus, dass mein Schultergelenk wehtut. Der Gürtel streift Marcus’ Schulter. Er schreit auf und stürzt sich mit ausgestreckten Händen auf mich, seine Finger sehen aus wie Klauen. Tobias schubst mich hinter sich, sodass er zwischen mir und Marcus steht. Jetzt wirkt er zornig, nicht mehr ängstlich.
Mit einem Mal sind alle Marcusse verschwunden. Die Lichter gehen an, sie erleuchten einen langen, schmalen Raum mit zerbröselnden Ziegelsteinwänden und Zementboden.
» Das ist alles?«, frage ich. » Das waren deine schlimmsten Ängste? Du hast wirklich nur vier…« Ich stocke.
Nur vier Ängste.
» Ah, jetzt verstehe ich. Deswegen nennen sie dich…«
Als ich seinen Gesichtsausdruck sehe, bleiben mir die Worte im Hals stecken. Seine Augen sind weit aufgerissen, die Lippen geöffnet, und fast könnte man seinen Blick als bewundernd bezeichnen. Aber aus welchem Grund sollte er mich so anschauen?
Das Licht scheint auf ihn, und so, wie er dasteht, wirkt er beinahe verletzlich. Er legt mir die Hand auf den Ellbogen, sein Daumen bohrt sich in die weiche Haut meines Unterarms, und er zieht mich an sich. Mein Gelenk tut weh, als wäre der Gürtel echt gewesen, aber die Haut ist so blass wie überall an meinem Körper. Seine Lippen streifen ganz leicht meine Wange, er legt die Arme um mich und vergräbt sein Gesicht an meinem Hals. Ich spüre seinen Atem an meinem Schlüsselbein.
Eine Sekunde lang versteife ich mich, dann schlinge ich die Arme um ihn und seufze leise.
» Hey, wir haben es geschafft.«
Er hebt den Kopf und fährt mir durchs Haar, streicht es mir hinter die Ohren. Wir schauen uns schweigend an. Geistesabwesend spielen seine Finger mit einer Haarlocke von mir.
» Nicht wir, du hast es geschafft«, sagt er schließlich. » Du hast mich da durchgeleitet.«
» Na ja.« Meine Kehle
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