Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Was…«, fängt er leise an, » was genau«, wird er lauter, » hast du dir dabei gedacht?«
» Ich…« Jetzt steht er so dicht vor mir, dass ich die Löcher seiner Piercings sehe. » Ich weiß es nicht.«
» Soll ich dich für eine Verräterin halten, Tris?«, sagt er. » Weißt du nicht, was Fraktion vor Blut bedeutet?«
Ich habe Eric schreckliche Dinge tun sehen. Ich habe ihn schreckliche Dinge sagen hören. Aber so wie jetzt habe ich ihn noch nie erlebt. Er ist kein Wahnsinniger, er ist beherrscht und hat sich völlig in der Gewalt. Er ist hellwach und ganz ruhig.
Zum ersten Mal begreife ich, was Eric wirklich ist: ein Ken, der sich als Ferox getarnt hat, ein Genie und ein Sadist, einer, der Unbestimmte jagt.
Ich möchte auf dem Absatz umkehren und weglaufen.
» Bist du nicht zufrieden mit deinem Leben hier? Bedauerst du deine Wahl?« Eric zieht stirnrunzelnd die mehrfach gepiercten Augenbrauen hoch. » Ich möchte von dir wissen, warum du die Ferox, dich und mich verraten hast…«, er klopft sich an die Brust, » indem du es gewagt hast, zum Hauptquartier einer anderen Fraktion zu gehen.«
» Na ja …« Ich hole tief Luft. Wenn er wüsste, was ich bin, würde er mich, ohne mit der Wimper zu zucken, umbringen. Seine Hände sind zu Fäusten geballt. Wir beide sind alleine; wenn mir etwas zustößt, wird es niemand sehen, niemand erfahren.
» Wenn du es nicht erklären kannst«, sagt er leise, » dann könnte ich gezwungen sein, nochmals über deine Bewertung nachzudenken. Und da du dich offenbar immer noch zu deiner früheren Fraktion hingezogen fühlst… könnte ich natürlich auch gezwungen sein, über die Bewertungen deiner Freunde nachzudenken. Das würde das kleine Mädchen von den Altruan, das immer noch in dir steckt, sicher sehr traurig machen.«
Mein erster Gedanke ist: Das kann er nicht tun, das ist ungerecht. Mein zweiter Gedanke ist, dass er das natürlich tun würde, er würde keine Sekunde lang zögern. Und er hat recht– der Gedanke daran, dass ich mit meinem rücksichtslosen Verhalten jemand anderen aus der Fraktion heraustreibe, entsetzt mich unsäglich.
» Ich… ich…«, fange ich an zu stottern.
Und dann geht die Tür auf und Tobias kommt herein.
» Was machst du da?«, fragt er Eric.
» Lass uns allein.« Erics Stimme ist jetzt lauter und nicht mehr so monoton. Er klingt wie der Eric, den ich kenne. Auch sein Mienenspiel ändert sich, es ist jetzt viel lebhafter. Ich starre ihn fasziniert an und frage mich, wie er das auf Knopfdruck schafft und was er damit bezweckt.
» Nein«, sagt Tobias. » Sie ist nur ein dummes Ding. Es ist nicht nötig, sie hierherzuschleppen und zu verhören.«
» Dummes Ding?«, schnaubt Eric. » Wenn sie das wäre, stünde sie nicht auf dem ersten Platz, oder?«
Tobias reibt sich die Nasenwurzel und schaut mich zwischen zwei Fingern hindurch an. Er will mir damit etwas zu verstehen geben. Ich überlege fieberhaft. Was war es, was er mir neulich geraten hat?
Das Einzige, was mir einfällt, ist: Tu so, als wärst du verletzlich.
Es hat schon einmal funktioniert.
» Ich… ich habe mich geschämt und wusste nicht, was ich tun sollte.« Ich vergrabe die Hände in den Hosentaschen und lasse den Kopf hängen. Dann zwicke ich mich so fest ins Bein, dass mir Tränen in die Augen schießen. Ich schüttle den Kopf und sage schniefend: » Ich habe… ich wollte…«
» Was wolltest du?«, fragt Eric.
» Sie wollte mich küssen«, antwortet Tobias an meiner Stelle. » Und ich habe sie abblitzen lassen. Sie ist davongerannt wie eine Fünfjährige. Es gibt wirklich nichts, was man ihr vorwerfen könnte, außer ihrer Dummheit.«
Wir beide warten ab.
Eric blickt von mir zu Tobias und fängt an zu lachen. Er lacht viel zu laut und viel zu lang– sein Lachen klingt bedrohlich, es kratzt an meinen Nerven wie Schmirgelpapier. » Ist er nicht ein bisschen zu alt für dich, Tris?«, fragt er und grinst.
Ich reibe mir die Wange, als wollte ich eine Träne wegwischen. » Kann ich jetzt gehen?«
» Gut«, sagt Eric, » aber du darfst das Gelände nicht mehr ohne Begleitung verlassen, hast du mich verstanden?« Zu Tobias gewandt sagt er: » Und du solltest besser darauf achtgeben, dass keiner von den Neuen das Gelände verlässt. Und dass keine dich küssen will.«
Tobias verdreht die Augen. » Schon gut.«
Ich gehe nach draußen und schüttle meine Hände aus, um das zittrige Gefühl loszuwerden. Erschöpft setze ich mich auf den Gehweg und schlinge die Arme
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