Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Simulationen gibt es endlos viele Tests mit Lügendetektoren. Und erst die Abschlussprüfung…« Sie rümpft die Nase. » Sie geben dir dieses Zeug, das sie Wahrheitsserum nennen, und dann sitzt du da und sie fragen dich die allerpersönlichsten Sachen. Die Theorie dahinter ist die: Sie glauben, wer sämtliche Geheimnisse preisgegeben hat, muss nicht mehr lügen. Und wenn ohnehin jeder das Schlimmste über einen weiß, kann man genauso gut ehrlich sein.«
Ich überlege, wie viele Geheimnisse ich in letzter Zeit angesammelt habe. Dass ich eine Unbestimmte bin. Meine Ängste. Meine wahren Gefühle für meine Freunde, meine Familie, Al und Tobias. Die Candor brächten Dinge ans Licht, dagegen sind die Simulationen ein Klacks. Dieser Fraktion anzugehören, würde mich zugrunde richten.
» Klingt entsetzlich«, sage ich.
» Ich habe immer gewusst, dass ich keine Candor werden kann. Ich versuche ja, aufrichtig zu sein, aber es gibt ein paar Dinge, da will man einfach nicht, dass andere Leute über sie Bescheid wissen. Außerdem möchte ich Herr über meine eigenen Gedanken sein.«
Wer will das nicht?
» Und überhaupt«, sagt Christina und öffnet den Schrank links neben unserem Etagenbett. Eine Motte mit weißen Flügeln flattert heraus und fliegt direkt auf sie zu. Christina kreischt so laut, dass ich vor Schreck fast umkippe. Hektisch schlägt sie sich auf die Wangen.
» Verschwinde! Verschwinde verschwinde verschwinde!«
Die Motte flattert davon.
» Hey, sie ist weg.« Ich muss lachen. » Du fürchtest dich doch nicht etwa vor Motten?«
» Sie sind einfach widerlich. Diese papiernen Flügel und diese ekligen Insektenkörper…« Sie schüttelt sich.
Ich lache noch lauter. Ich lache so sehr, dass ich mich hinsetzen und mir den Bauch halten muss.
» Das ist nicht lustig!«, fährt sie mich an. » Na ja, vielleicht doch. Ein bisschen.«
Als ich spätabends Tobias treffe, sagt er kein Wort, sondern nimmt mich einfach bei der Hand und geht mit mir zu den Eisenbahngleisen.
Mit unglaublicher Leichtigkeit schwingt er sich in einen vorbeifahrenden Wagen. Ich springe hinterher. Der Schwung ist so groß, dass ich gegen ihn pralle, und dabei schmiegt sich meine Wange an seine Brust. Er streicht über meine Arme und hält mich an den Ellbogen fest, während der Wagen über die Gleise rumpelt. Der Glasturm hinter uns wird immer kleiner.
» Schieß los, was wolltest du mir sagen?«, rufe ich gegen den Fahrtwind an.
» Jetzt nicht. Später.«
Wortlos lässt er sich auf den staubigen Boden fallen und zieht mich zu sich hinunter. Er lehnt sich mit dem Rücken an die Wand und ich hocke ihm gegenüber und schaue ihn an. Der Wind zerrt an meinen Haaren und weht sie mir ins Gesicht.
Er legt seine Hände an meine Wangen, hält mein Gesicht fest und zieht meinen Mund zu sich.
Das Kreischen der Räder, als der Zug bremst, verrät mir, dass wir uns der Stadtmitte nähern. Die Luft ist kalt, aber seine Lippen sind warm und seine Hände sind es auch. Seine Lippen streichen über meinen Hals. Ich bin froh, dass der Fahrtwind so laut pfeift und er mein Seufzen nicht hören kann.
Plötzlich schwankt der Waggon. Ich verliere das Gleichgewicht und muss mich mit einer Hand abstützen. Es dauert einen Moment, bis ich merke, dass meine Hand jetzt auf seiner Hüfte ruht. Der Knochen drückt gegen meine Finger. Ich sollte die Hand besser wegnehmen, aber ich will es nicht. Hat nicht gerade er von mir verlangt, mutig zu sein? Ich habe nicht mit der Wimper gezuckt, als er Messer auf mich warf, und ich bin, ohne zu zögern, von einem Dach gesprungen, aber niemals hätte ich geglaubt, dass ich in solch einem kleinen Augenblick wie diesem Mut brauchen würde. Aber genau den brauche ich jetzt.
Ich schwinge ein Bein über ihn, sodass ich auf ihm sitze, und obwohl mir das Herz bis in den Hals hinaufrutscht, küsse ich ihn. Er setzt sich gerade hin und ich spüre seine Hände auf meinen Schultern. Ein wohliger Schauder breitet sich aus, wo seine Finger über meinen Rücken streichen. Er zerrt am Reißverschluss meiner Jacke. Ich presse meine Hände ganz fest an die Beine, damit sie nicht zittern. Ich brauche keine Angst zu haben. Das hier ist Tobias.
Kalte Luft streicht über meine nackte Haut. Er rutscht ein Stück zurück und schaut sich die Tattoos an meiner Schulter an. Sanft fährt er die Konturen nach.
» Vögel«, sagt er lächelnd. » Sind das Krähen? Ich wollte dich schon so oft danach fragen.«
Ich erwidere sein Lächeln, besser
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