Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
gesagt, ich versuche es. » Raben. Einen für jeden aus meiner Familie«, sage ich leicht benommen. » Gefallen sie dir?«
Statt einer Antwort zieht er mich an sich und drückt seine Lippen nacheinander auf die drei Vögel. Seine Berührung ist sanft, zärtlich. Ein wohliges, warmes Gefühl, so köstlich wie flüssiger Honig, erfasst mich und macht meine Gedanken träge. Er berührt meine Wangen.
» Ich sage es nur ungern, aber wir müssen jetzt aufstehen. Ich will dir was zeigen.«
Ich nicke und öffne die Augen. Wir stehen beide auf und er zieht mich hinter sich her zur offenen Zugtür. Jetzt, wo der Zug langsamer fährt, pfeift der Wind nicht mehr so stark. Es ist schon nach Mitternacht, deshalb brennen keine Straßenlaternen mehr; die Gebäude sehen aus wie Mammuts, die aus der Dunkelheit auftauchen und wieder in ihr versinken. Tobias zeigt auf mehrere Gebäude. Sie sind nur ein fingernagelgroßer Fleck in der Ferne, ein heller Punkt im Meer der Dunkelheit. Das Hauptquartier der Ken.
» Die da drüben scheren sich nicht viel um die städtischen Verordnungen«, sagt er. » Sie lassen die Lichter die ganze Nacht über brennen.«
» Merkt das denn niemand?«
» Oh doch, aber niemand unternimmt etwas dagegen. Vielleicht will man eine solche Kleinigkeit nicht unnötig aufbauschen.« Tobias zuckt mit den Achseln, aber mir entgeht nicht, wie nervös er ist. » Ich frage mich allerdings, was die Ken treiben, dass sie nachts Licht brauchen.«
Er lehnt sich gegen die Waggonwand und sagt: » Zwei Dinge solltest du von mir wissen. Erstens, ich bin misstrauisch gegenüber Menschen im Allgemeinen. Ich erwarte immer das Schlechteste von ihnen. Zweitens, und das wird dich vielleicht überraschen, ich kenne mich gut mit Computern aus.«
Ich nicke. Gleich zu Anfang hat er uns erzählt, dass er noch einen Job hat, bei dem er mit Computern arbeitet, aber ich kann ihn mir gar nicht vorstellen, wie er den ganzen Tag vor einem Bildschirm sitzt.
» Vor einigen Wochen, kurz bevor euer Training angefangen hat, habe ich herausgefunden, wo die geheimen Daten der Ferox gespeichert werden. Wir sind, was die Sicherheit angeht, offenbar nicht so versiert wie die Ken«, fährt er fort. » Und was ich dort gefunden habe, sah aus wie Kriegspläne. Befehle, Nachschublisten, Karten und so weiter, alles nur notdürftig versteckt. Und das Wichtigste: Die Daten kamen von den Ken.«
» Kriegspläne?« Ich streiche die Haare aus dem Gesicht. Ich habe mein Leben lang mit angehört, wie mein Vater über die Ken schimpfte, und bin ihnen gegenüber sehr misstrauisch, und auch meine Erfahrungen mit den Ferox haben mich misstrauisch gemacht gegenüber Obrigkeiten und Menschen im Allgemeinen. Deshalb schockiert es mich nicht sonderlich, dass eine Fraktion womöglich einen Krieg vorbereitet.
Was hat Caleb doch gleich wieder gesagt? Irgendeine große Sache ist am Laufen, Beatrice.
» Du meinst, Krieg gegen die Altruan?«, frage ich Tobias geradeheraus.
Er nimmt meine Hände, verschränkt seine Finger in meine und sagt: » Gegen die regierende Fraktion, ja.«
Bei seinen Worten stockt mir der Atem.
» All ihre Berichte dienen dazu, Zwietracht zu säen«, sagt er und richtet den Blick auf die Stadt in der Ferne. » Es hat den Anschein, als wollten die Ken das Ganze nun beschleunigen. Ich habe keine Ahnung, was man dagegen unternehmen kann… falls man überhaupt etwas tun kann.«
» Aber aus welchem Grund sollten die Ken mit den Ferox gemeinsame Sache machen?«
Doch dann wird es mir schlagartig klar. Es trifft mich wie ein Faustschlag in den Magen und nagt an meinen Eingeweiden. Die Ken haben keine Waffen und sie verstehen auch nichts vom Kämpfen– wohl aber die Ferox.
Ich starre Tobias mit großen Augen an.
» Sie benutzen uns«, sage ich leise.
Er nickt. » Ich frage mich, wie sie uns dazu bringen wollen zu kämpfen.«
Ich habe Caleb vorgeworfen, dass die Ken es verstehen, Menschen für ihre Zwecke zu manipulieren. Sie könnten zum Beispiel gezielt Fehlinformationen streuen oder die Habsucht der Ferox anstacheln– es gibt so viele Möglichkeiten.
Aber die Ken sind ebenso gut im Planen wie im Manipulieren und würden sicherlich nichts dem Zufall überlassen. Sie würden dafür sorgen, dass nichts schieflaufen kann. Aber wie?
Der Wind weht mir die Haare ins Gesicht, sie nehmen mir die Sicht, aber ich streiche sie nicht weg.
» Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sage ich.
29 . Kapitel
Bis auf heute habe ich mir die
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