Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
ich den Schlafsaal betrete. Der Raum ist leer, bestimmt sind die anderen alle beim Essen. » Ich habe dich draußen gesucht, aber nirgends gefunden. Ist alles in Ordnung? Hast du Ärger bekommen, weil du Four geschlagen hast?«
Ich schüttle den Kopf. Allein der Gedanke, ihr zu erzählen, wo ich gewesen bin, strengt mich an.
Wie soll ich ihr erklären, dass ich plötzlich das Bedürfnis verspürte, auf einen Zug aufzuspringen und meinen Bruder zu besuchen? Wie soll ich die beunruhigend leise Stimme beschreiben, mit der mich Eric ausfragte? Und vor allem, wie soll ich rechtfertigen, dass ich überhaupt so in die Luft gegangen bin und Tobias geschlagen habe?
» Ich musste einfach mal raus. Ich habe einen langen Spaziergang gemacht«, sage ich. » Und nein, ich habe keinen Ärger bekommen. Er hat mich angeschrien, ich habe mich entschuldigt… und das war’s dann.«
Ich gebe mir Mühe, sie beim Reden anzuschauen und die Hände ruhig zu halten.
» Das ist gut«, sagt sie. » Denn ich muss dir etwas erzählen.« Sie schaut zuerst an mir vorbei zur Tür, dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen und wirft einen Blick auf die oberen Stockbetten, um sicherzugehen, dass niemand da ist.
Erst danach legt sie mir die Hände auf die Schultern und sagt: » Kannst du mal für ein paar Sekunden ein richtiges Mädchen sein?«
» Ich bin immer ein Mädchen.«
» Du weißt, was ich meine. Ein albernes, nerviges Mädchen.«
Ich spiele mit meinen Haaren. » Okay.«
Sie grinst so breit, dass ihre Backenzähne blitzen. » Will hat mich geküsst.«
» Was? Wann? Wie? Wie ist das passiert?«
» Du kannst ja tatsächlich ein richtiges Mädchen sein!« Sie lässt mich los. » Also, es war kurz nach der kleinen Einlage, die du gegeben hast. Wir haben Mittag gegessen, dann sind wir in der Nähe der Eisenbahngleise spazieren gegangen. Wir haben uns einfach unterhalten… ich weiß gar nicht mehr, worüber. Und dann ist er stehen geblieben, hat sich zu mir gebeugt und… mich geküsst.«
» Hast du gewusst, was er für dich fühlt?«, frage ich. » Ich meine, du weißt schon. So halt.«
» Nein!« Sie lacht. » Und das Verrückteste ist, das war’s dann auch schon. Wir sind danach einfach weitergegangen und haben uns unterhalten, als wäre nichts passiert. Na ja, bis ich ihn geküsst habe.«
» Und seit wann weißt du, dass du ihn magst?«
» Das kann ich dir nicht genau sagen. Ich schätze, ich habe es zuvor überhaupt nicht gewusst. Andererseits waren da diese Kleinigkeiten… wie er mich bei der Beerdigung in den Arm genommen hat, zum Beispiel, oder wie er mir immer die Tür aufhält. Er behandelt mich wie ein Mädchen und nicht wie jemand, der ihn grün und blau prügeln könnte.«
Ich lache. Am liebsten würde ich ihr von Tobias erzählen und allem, was zwischen uns beiden passiert ist. Aber aus demselben Grund, aus dem Tobias will, dass wir so tun, als ob wir nicht zusammen wären, halte ich den Mund. Ich möchte nicht, dass sie denkt, meine Bewertung hätte etwas damit zu tun.
Deshalb sage ich einfach: » Das freut mich für dich.«
» Danke. Ich freue mich auch. Und ich dachte immer, ich müsste noch lange warten, bis… na ja, du weißt schon.«
Sie setzt sich auf meine Bettkante und schaut sich im Schlafsaal um. Einige von uns haben ihre Sachen schon gepackt. Bald werden wir in Apartments auf dem Ferox-Gelände umziehen. Diejenigen, die einen Job bei der Regierung erhalten, kommen im Glashaus der Grube unter. Wenn es so weit ist, muss ich keine Angst mehr haben, dass mich Peter im Schlaf überfällt. Und ich werde nicht mehr Als leeres Bett anschauen müssen.
» Ich kann gar nicht glauben, dass bald alles vorbei ist«, sagt Christina. » Mir ist, als wären wir gerade erst angekommen. Und gleichzeitig kommt es mir so vor, als wäre ich schon seit einer Ewigkeit von zu Hause weg.«
» Fehlt es dir?« Ich lehne mich an den Bettrahmen.
» Ja.« Sie zuckt die Achseln. » Manche Dinge sind allerdings genau gleich. Ich meine, die Leute dort sind genauso laut wie die Ferox hier, das ist gut. Aber zu Hause ist es einfacher. Man weiß genau, woran man bei jedem ist, weil alle so offen sind. Da gibt es keine… Manipulationen.«
Ich nicke. Was das angeht, haben mich die Altruan auf mein neues Leben vorbereitet. Sie manipulieren andere Leute zwar nicht, aber aufrichtig sind sie auch nicht gerade.
Christina schüttelt den Kopf. » Ich glaube aber nicht, dass ich die Initiation bei den Candor geschafft hätte. Anstelle von
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