Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
im gleichen Takt bewegen. Sie kommen auf uns zu. Meine Mutter dreht sich um. Auch hinter uns marschieren Ferox im Gleichschritt in unsere Richtung.
Sie nimmt mich an der Hand und schaut mir in die Augen. Wenn sie blinzelt, sieht man ihre langen Wimpern. Ich wünschte, ich hätte etwas von ihr in meinem schmalen, unscheinbaren Gesicht. Aber wenigstens habe ich etwas von ihr in meinem Geist.
» Geh zu deinem Vater und deinem Bruder. Die rechte Abzweigung, dann nach unten in den Keller. Klopfe erst zweimal, dann dreimal, dann sechsmal.« Sie nimmt mein Gesicht in die Hände. Ihre Finger sind kalt, ihre Handflächen rau. » Ich werde sie ablenken. Lauf, so schnell du kannst.«
» Nein.« Ich schüttle den Kopf. » Ohne dich gehe ich nirgendwohin.«
Sie lächelt. » Sei tapfer, Beatrice. Ich liebe dich.«
Ich fühle ihre Lippen auf meiner Stirn, dann läuft sie schon mitten auf die Straße. Sie hält ihre Waffe hoch und gibt drei Schüsse in die Luft ab. Die Ferox fangen an zu rennen.
Ich husche über die Straße in eine schmale Gasse hinein. Ein Blick über die Schulter zeigt mir, dass niemand mir folgt. Meine Mutter feuert weiter, die Wachen sind so sehr mit ihr beschäftigt, dass sie mich gar nicht bemerken.
Dann höre ich eine Salve und drehe mich abrupt um. Meine Beine geben nach und ich bleibe stehen.
Meine Mutter bäumt sich auf. Blut spritzt aus einer Schusswunde im Bauch und färbt den Stoff rot. Auch an der Schulter breitet sich ein großer Blutfleck aus. Ich kneife die Augen zu, aber das grausame Rot leuchtet auch hinter meinen Augenlidern. Ich blinzle und ich sehe ihr Lächeln, während sie meine abgeschnittenen Haare zusammenkehrt.
Sie stürzt auf die Knie, mit schlaffen Armen, dann fällt sie auf den Gehweg und bleibt zusammengekrümmt auf der Seite liegen wie eine Flickenpuppe. Sie bewegt sich nicht, sie atmet nicht.
Ich presse die Hände vor den Mund und unterdrücke den Aufschrei. Meine Wangen brennen und sind nass, ich habe gar nicht bemerkt, dass ich weine. Alles in mir schreit, dass ich zu ihr gehöre und zu ihr zurückmuss, aber dann höre ich ihre Worte, die mir sagen, ich soll tapfer sein.
Der Schmerz überwältigt mich. In mir bricht alles zusammen, meine ganze Welt löst sich in einem einzigen Augenblick auf. Wenn ich hier liegen bleibe, dann ist vielleicht alles vorbei. Vielleicht hat Eric recht, und den Tod zu wählen ist so, als erkunde man ein unbekanntes Terrain.
Ich fühle, wie Tobias mir vor der ersten Simulation das Haar aus dem Gesicht streicht. Ich höre, wie er sagt, ich solle tapfer sein. Ich höre, wie meine Mutter sagt, ich solle tapfer sein.
Die Ferox drehen sich um wie Marionetten. Irgendwie komme ich wieder auf die Beine und fange an zu laufen.
Ich bin tapfer.
36 . Kapitel
Drei der Soldaten verfolgen mich. Sie laufen im Gleichschritt, ihr Tritt hallt in der schmalen Gasse wider. Einer von ihnen schießt. Ich ducke mich, schürfe mir dabei die Hände auf. Die Kugel trifft die Ziegelsteinmauer rechts von mir, Steinsplitter werden in alle Richtungen gesprengt. Ich hechte um die Ecke und stecke eine Kugel in den Lauf meiner Waffe.
Sie haben meine Mutter getötet. Ich richte den Lauf auf die Straße und feuere blindlings. Es waren nicht diese Soldaten, aber es ist egal– es muss mir jetzt egal sein, der Tod trifft nicht immer die richtige Wahl.
Jetzt höre ich nur noch die Schritte eines einzigen. Ich halte die Waffe mit beiden Händen, bleibe am Ende der Straße stehen und ziele. Ich lege den Finger an den Abzug, aber ich drücke nicht ab. Der Soldat, der auf mich zuläuft, ist noch ein Junge. Ein verstrubbelter Junge mit einer Falte zwischen den Augenbrauen.
Will. Selbst mit stierem Blick und völlig willenlos ist er immer noch Will. Er sieht mich an, stellt sich breitbeinig hin und zielt. In dem Moment, in dem sein Finger sich am Auslöser krümmt und die Patrone in die Trommel gleitet, schieße ich. Ich drücke die Augen zu und vergesse Luft zu holen.
Die Kugel muss ihn in den Kopf getroffen haben, denn dorthin habe ich gezielt.
Ohne die Augen zu öffnen, drehe ich mich um und torkele die Straße entlang. Kreuzung Nordstadt/Fairfield. Ich muss auf die Straßenschilder schauen, um mich zu orientieren, aber ich kann sie nicht lesen, alles verschwimmt mir vor den Augen. Ich muss ein paarmal blinzeln. Ich bin nur einen Schritt von dem Gebäude entfernt, in dem sich alle befinden, die von meiner Familie noch übrig sind.
An der Tür sinke ich auf die Knie. Tobias
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