Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
anfange zu zählen. Sein Haar ist lang, dunkel und fettig. Aber das ist nicht der Grund, weshalb er so Furcht einflößend wirkt. Es ist vielmehr sein kalter Blick, den er durch den Raum schweifen lässt.
» Wer ist das?«, flüstert Christina.
» Er heißt Eric«, sagt Four. » Er ist einer unserer Anführer.«
» Tatsächlich? Er wirkt noch so jung.«
Four sieht sie ernst an. » Das Alter ist hier nicht wichtig.«
Ich weiß genau, sie würde jetzt am liebsten die gleiche Frage stellen wie ich, nämlich: Was ist denn wichtig? Aber Eric schaut sich jetzt nicht mehr um, sondern geht zielstrebig auf einen Tisch zu– er kommt an unseren Tisch und lässt sich auf den Stuhl neben Four fallen. Er grüßt nicht, deshalb tun wir es auch nicht.
» Okay, willst du sie mir nicht vorstellen?«, fragt er und zeigt mit dem Kinn auf Christina und mich.
Four sagt: » Das sind Tris und Christina.«
» Oh, eine Stiff«, sagt Eric und grinst mich an. Als er lächelt, werden die Löcher seiner Lippenpiercings noch größer, ein Anblick, der mich zusammenzucken lässt. » Mal sehen, wie lange du es hier aushältst.«
Ich will etwas sagen– zum Beispiel, dass ich auf jeden Fall durchhalten werde–, aber ich bringe kein Wort heraus. Ich weiß nicht, weshalb, aber ich will nicht, dass Eric mich auch nur eine Sekunde länger anschaut. Ich will, dass er mich überhaupt niemals mehr anschaut.
Er trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Seine Knöchel sind verschorft, genau an der Stelle, an der Knöchel aufplatzen, wenn man allzu fest zuschlägt.
» Was hast du in letzter Zeit so gemacht, Four?«, fragt er.
» Nichts Besonderes«, antwortet Four schulterzuckend.
Sind die beiden Freunde? Mein Blick wandert zwischen Eric und Four hin und her. Alles, was Eric tut– dass er sich an den Tisch gesetzt hat, dass er sich nach Four erkundigt–, deutet darauf hin, dass sie Freunde sind. Aber die Art, wie Four dasitzt, angespannt wie ein Drahtseil, lässt etwas anderes vermuten. Vielleicht sind sie Rivalen. Aber ist das wirklich denkbar? Eric ist immerhin einer der Ferox-Anführer und Four nicht.
» Max hat gesagt, dass er schon länger ein Gespräch mit dir führen will, aber du lässt dich nicht blicken«, fährt Eric fort. » Ich soll für ihn rausfinden, was mit dir los ist.«
Four lässt sich Zeit mit der Antwort. » Sag ihm, ich bin ganz zufrieden mit dem, was ich augenblicklich mache.«
» Er will dir einen neuen Aufgabenbereich übertragen.«
In den Metallringen an Erics Augenbraue spiegelt sich das Licht. Womöglich sieht Eric in Four einen Konkurrenten. Mein Vater behauptet immer, dass jemand, der auf Macht aus ist und sie bekommt, in ständiger Angst davor lebe, diese Macht zu verlieren. Deshalb solle man jenen Macht verleihen, die sie nicht anstreben.
» Sieht ganz danach aus«, entgegnet Four.
» Und du bist wirklich nicht daran interessiert?«
» Das bin ich schon seit zwei Jahren nicht.«
» Tja«, sagt Eric, » dann lass uns hoffen, dass er es endlich versteht.«
Er versetzt Four einen Schlag gegen die Schulter, ein wenig zu heftig, dann steht er auf und geht. Sofort entspanne ich mich wieder. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie nervös Eric mich gemacht hat.
» Seid ihr beide… befreundet?«, frage ich, unfähig, meine Neugier zu zügeln.
» Wir waren im gleichen Anfängerjahrgang«, sagt Four. » Er ist von den Ken zu uns gekommen.«
Ich lasse jede Vorsicht fahren und frage: » Und von woher bist du gekommen?«
» Ich dachte, nur die Candor machen Scherereien, weil sie zu viel fragen«, sagt er kühl. » Tun das jetzt auch die Stiff?«
» Das muss wohl daran liegen, dass du so zugänglich wirkst«, sage ich knapp. » Ungefähr so einladend wie ein Nagelbrett.«
Four starrt mich an und ich halte seinem Blick stand. Er ist kein Hund, aber ich bin sicher, für ihn gilt dasselbe wie für einen Hund. Wegschauen bedeutet Unterwerfung, Hinschauen ist eine Kampfansage. Entweder – oder, ich habe die Wahl.
Ich spüre, wie ich rot werde. Was passiert, wenn ich den Bogen überspannt habe?
Aber er sagt nur: » Vorsicht, Tris.«
Mein Magen sackt nach unten, als hätte ich soeben einen Stein verschluckt. Ein Ferox am Nebentisch ruft Four zu sich und ich drehe mich zu Christina. Sie zieht die Augenbrauen hoch.
» Was ist?«, frage ich.
» Ich habe da eine Vermutung.«
» Und die wäre?«
Sie nimmt ihren Hamburger, grinst und sagt: » Dass du lebensmüde bist.«
Nach dem Essen verschwindet Four wortlos. Eric
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