Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Myra und drückt seine Lippen auf ihre. Ich atme viel zu laut aus und drehe mich weg. Einerseits warte ich darauf, dass irgendjemand sie zurechtweist, andererseits frage ich mich mit einem Anflug von Sehnsucht, was es für ein Gefühl sein mag, die Lippen eines anderen auf seinen zu spüren.
» Müssen die das in aller Öffentlichkeit tun?«, sage ich entnervt.
» Sie hat ihn doch nur geküsst.« Will wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Als er seine Stirn runzelt, berühren seine dichten Augenbrauen die Wimpern. » Sie haben sich ja nicht nackt ausgezogen.«
» Man küsst sich nicht in aller Öffentlichkeit.«
Al, Will und Christina tauschen vielsagende Blicke aus.
» Was ist?«, frage ich.
» Man merkt, dass du von den Altruan kommst«, sagt Christina. » Wir anderen stören uns nicht an ein bisschen Zuneigung in der Öffentlichkeit.«
» Oh«, sage ich und zucke möglichst lässig mit den Schultern. » Ich schätze, dann muss ich mich daran gewöhnen.«
» Du kannst auch ein Sexmuffel bleiben«, sagt Will und seine grünen Augen blitzen spöttisch. » Das liegt ganz an dir.«
Christina wirft ein Brötchen nach ihm. Er fängt es auf und beißt hinein.
» Sei nicht gemein zu ihr«, schimpft sie. » Tris kann nicht so einfach aus ihrer Haut. Genauso wenig, wie du es verleugnen kannst, dass du ein Besserwisser bist.«
» Ich bin kein Sexmuffel!«, protestiere ich.
» Mach dir nichts draus«, sagt Will. » Das ist doch ganz niedlich. Schaut mal, jetzt wird sie rot.«
Bei seiner Bemerkung wird mir noch heißer im Gesicht. Alle kichern. Ich tue so, als würde ich mitlachen, und nach einem Augenblick platzt es tatsächlich aus mir heraus.
Es ist schön, lachen zu können.
Nach dem Essen führt uns Four in einen Raum. Er ist riesig und die Holzdielen knarren und quietschen. In der Mitte ist ein großer Kreis aufgemalt. An der linken Wand hängt eine große grüne Schultafel. Meine Lehrer in der Unterstufe haben auf solchen Tafeln geschrieben, aber seither habe ich keine mehr gesehen. Vielleicht ist es Ausdruck der Prioritäten, die die Feroxsetzen: zuerst das Training, dann die Technik.
Auf der Tafel stehen unsere Namen in alphabetischer Reihenfolge und in einer Ecke hängen im gleichen Abstand nebeneinander mehrere schon ziemlich abgenutzte Sandsäcke.
Wir stellen uns in Reih und Glied neben den Sandsäcken auf. In der Mitte steht Four, sodass wie ihn alle sehen können.
» Wie ich heute Morgen schon gesagt habe, werdet ihr kämpfen lernen«, verkündet er. » Es geht darum, euch darauf vorzubereiten, im entscheidenden Moment zu handeln, und darum, euren Körper für Bedrohungen und Kämpfe fit zu machen– was ihr auch bitter nötig haben werdet, wenn ihr als Ferox überleben wollt.«
Im Moment ist mir die Vorstellung, als Ferox zu leben und zu überleben, noch unendlich fern. Mir reicht vorerst der Gedanke daran, wie ich die Initiation überstehen soll.
» Heute werden wir uns mit Kampftechniken beschäftigen und morgen werdet ihr gegeneinander antreten«, sagt Four. » Ich rate euch deshalb aufzupassen. Wer nicht flink lernt, wird es später büßen.«
Four zählt Schlagtechniken auf und demonstriert sie sofort, erst führt er die Schläge in die Luft, dann gegen den Sandsack.
Im Laufe des Trainings werde ich besser. Wie schon mit dem Gewehr brauche ich ein paar Anläufe, um herauszufinden, wie ich am besten stehe und wie ich mich bewegen muss, damit ich es genauso mache wie Four. Die Tritte sind schwieriger, obwohl er uns nur die einfachsten zeigt. Als ich auf den Sandsack schlage, tun mir Hände und Füße weh und meine Haut ist knallrot, aber der Sandsack bewegt sich kaum, egal, wie fest ich dagegen schlage. Überall um mich herum höre ich, wie Fäuste gegen festen, unnachgiebigen Stoff klatschen.
Four wandert zwischen uns hin und her und beobachtet uns, während wir verbissen die Schläge üben. Als er vor mir stehen bleibt, habe ich das Gefühl, als würde mir jemand mit einer Gabel im Magen herumrühren. Er fixiert mich, mustert mich von Kopf bis Fuß, und doch verweilen seine Augen nirgendwo– es ist ein fachkundiger, prüfender Blick.
» Du hast nicht viele Muskeln«, sagt er, » das heißt, es ist besser, wenn du deine Knie und deine Ellbogen einsetzt. Dann verleihst du deinen Schlägen mehr Kraft.«
Er legt eine Hand auf meinen Bauch. Seine Finger sind lang, mit dem Handballen berührt er die Rippen auf der einen Seite und die Fingerspitzen reichen bis auf die andere Seite des
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