Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
Gleis, schließe die Augen, damit ich mich ganz darauf konzentrieren kann, was meine Hände fühlen. Das Vibrieren geht wie ein Seufzen durch meinen Körper. Zwischen Susans Knien hindurch blicke ich die Schienen entlang, sehe aber nirgendwo Zugscheinwerfer. Doch das hat nichts zu bedeuten; der Zug fährt vielleicht ohne Licht und ohne Signale.
Dann sehe ich den matten Schein eines kleinen Eisenbahnwagens, er ist noch weit weg, kommt aber schnell näher.
» Er kommt«, rufe ich. Es ist unglaublich anstrengend, wieder aufzustehen, da ich nichts lieber möchte als sitzen bleiben, aber ich gebe mir einen Ruck und wische mir dann die Hände an den Jeans ab. » Ich finde, wir sollten aufspringen.«
» Auch wenn die Ken jetzt die Züge steuern?«, fragt Caleb.
» Wenn die Ken die Züge übernommen hätten, dann wären sie damit zum Hauptquartier der Amite gefahren, um uns zu suchen«, sagt Tobias. » Ich glaube, wir sollten es riskieren. In der Stadt können wir uns verstecken. Hier ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie uns aufspüren.«
Wir gehen alle von den Gleisen. Caleb erklärt Susan Schritt für Schritt, was sie tun muss, um auf einen Zug aufzuspringen; so etwas macht nur jemand, der einmal bei den Ken gewesen ist. Ich sehe den ersten Waggon näher kommen, höre das rhythmische Rumpeln, wenn er über die Schwellenstöße fährt, das Flüstern der Eisenräder auf der Eisenschiene.
Als der erste Wagen an mir vorbeigefahren ist, renne ich los, ohne auf das Brennen in meinen Beinen zu achten. Caleb hilft Susan, auf einen der mittleren Wagen aufzuspringen, dann folgt er ihr. Ich atme kurz ein und werfe mich dann nach rechts, auf den Boden des Waggons, sodass nur meine Beine über den Rand baumeln. Caleb packt mich am linken Arm und zieht mich weiter. Tobias hält sich am Türgriff fest und schwingt sich hinter mir hinein.
Als ich hochblicke, stockt mir der Atem.
Augen blitzen in der Dunkelheit. Dunkle Gestalten sitzen in den Wagen; es sind viel mehr als wir.
Die Fraktionslosen.
Der Wind pfeift durch den Eisenbahnwagen. Alle tragen Waffen und sind aufgesprungen– nur Susan und ich nicht. Wir haben keine Waffen. Ein Fraktionsloser mit einer Augenbinde hat seine Pistole auf Tobias gerichtet. Ich frage mich, woher er sie hat.
Neben ihm steht eine ältere fraktionslose Frau mit einem Messer in der Hand– eines, das man zum Brotschneiden verwendet. Und hinter ihr hält jemand eine lange Holzlatte, aus der ein Nagel ragt.
» Ich habe noch nie bewaffnete Amite gesehen«, sagt die Fraktionslose mit dem Messer.
Der Mann mit der Pistole kommt mir bekannt vor. Er trägt zerschlissene Kleider in drei Farben– ein schwarzes T-Shirt mit einer zerrissenen Altruan-Jacke darüber, Bluejeans, die mit einem roten Faden geflickt sind, und braune Stiefel. Die Menschen vor mir tragen Kleidung aus allen Fraktionen, schwarze Anzugshosen der Candor in Kombination mit schwarzen Ferox-Shirts, gelbe Kleider und darüber blaue Sweatshirts. Die meisten Kleidungsstücke sind zerrissen oder schmutzig, andere nicht. Wahrscheinlich haben sie die gerade erst gestohlen.
» Das sind keine Amite«, sagt der Mann mit der Waffe. » Das sind Ferox.«
Jetzt erkenne ich ihn wieder, es ist Edward, einer meiner Mitinitianten, der die Ferox verlassen hat, nachdem ihn Peter mit einem Buttermesser angegriffen hat. Deshalb trägt er auch eine Augenklappe.
Ich erinnere mich noch, wie ich seinen Kopf gehalten habe, als er schreiend auf dem Fußboden lag; später habe ich das Blut aufgewischt.
» Hallo, Edward«, sage ich.
Er wendet seinen Kopf in meine Richtung, aber er senkt seine Waffe nicht. » Tris.«
» Wer auch immer ihr seid«, sagt die Frau, » wenn ihr am Leben bleiben wollt, dann seht zu, dass ihr aus diesem Zug verschwindet.«
» Bitte«, sagt Susan mit bebenden Lippen. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. » Wir sind weggelaufen… und die anderen sind tot und ich will nicht…« Sie fängt an zu schluchzen. » Ich glaube nicht, dass ich weiter kann, ich…«
Ich verspüre den seltsamen Drang, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Wenn andere Menschen weinen, dann fühle ich mich unwohl. Kann sein, dass das egoistisch von mir ist.
» Wir sind auf der Flucht vor den Ken«, sagt Caleb. » Wenn wir jetzt abspringen, dann finden sie uns leichter. Wir wären euch deshalb dankbar, wenn ihr uns erlauben würdet, mit euch in die Stadt zu fahren.«
» Ach ja?« Edward legt den Kopf schief. » Was habt ihr denn jemals für uns getan?«
»
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