Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
vorschreiben.«
Ich sehe, wie sich ihre Lippen verziehen und muss selbst ein Grinsen unterdrücken.
» Fertig?«, fragt Lynn.
» Was habt ihr vor?« Tobias biegt um die Ecke und steht nun bei uns zwischen den Bettreihen. Mein Mund ist trocken. Ich habe den ganzen Tag noch nicht mit ihm geredet, und ich weiß nicht, was mich erwartet. Wird es unangenehm sein oder können wir wieder ganz normal miteinander umgehen?
» Aufs Dach des Hancock Building, um die Ken auszuspionieren«, antwortet Lynn. » Kommst du mit?«
Tobias wirft mir einen Blick zu. » Nein, es gibt ein paar Dinge, um die ich mich hier kümmern muss. Aber seid vorsichtig.«
Ich nicke. Ich weiß, weshalb er nicht mitkommen will– Tobias meidet Höhen, wo immer es geht. Er fasst mich am Arm, hält mich einen Augenblick lang zurück. Ich verkrampfe mich– seit unserem Streit hat er mich nicht mehr berührt– und er lässt sofort meinen Arm los.
» Bis später«, murmelt er. » Macht keine Dummheiten.«
» Danke für dein Vertrauen«, sage ich beleidigt.
» So habe ich das nicht gemeint«, erwidert er. » Ich meinte nur, dass du aufpassen sollst, dass niemand Dummheiten macht. Sie werden auf dich hören.«
Er beugt sich zu mir, als wolle er mich küssen, dann scheint er es sich anders zu überlegen, denn er zieht sich zurück und beißt sich auf die Unterlippe. Es ist nur eine kleine Geste, aber ich fühle mich von ihm zurückgestoßen. Ich weiche seinem Blick aus und folge Lynn.
Lynn und ich gehen den Gang entlang zu den Aufzügen. Ein paar Ferox haben die Wände mit farbigen Rechtecken bemalt. Das Hauptquartier der Candor ist für sie wie ein Irrgarten, und sie wollen lernen, sich darin zurechtzufinden. Ich selbst finde nur die wichtigsten Orte, den Schlafbereich, die Cafeteria, die Eingangshalle, den Befragungsraum.
» Warum haben eigentlich alle das Gelände der Ferox verlassen?«, frage ich. » Die Verräter sind doch nicht dort, oder?«
» Nein, die sind im Hauptquartier der Ken. Wir sind weggegangen, weil bei uns mehr Überwachungskameras als in der ganzen Stadt hängen«, sagt Lynn. » Wir mussten annehmen, dass die Ken sämtliches Bildmaterial einsehen können und dass es eine Ewigkeit dauern würde, bis wir alle Kameras gefunden haben, deshalb dachten wir, es ist am besten, wenn wir gehen.«
» Sehr schlau.«
» Wir haben auch unsere hellen Momente.«
Lynn drückt den Knopf für das Erdgeschoss. Ich betrachte unsere Spiegelbilder in den Türen. Sie ist nur ein paar Zentimeter größer als ich, und obwohl ihr schlabbriges Shirt und ihre weiten Hosen es zu verstecken versuchen, sehe ich doch, dass ihr Körper wohlgeformt ist.
» Was ist?«, fragt sie mich stirnrunzelnd.
» Warum hast du deine Haare abgeschnitten?«
» Wegen der Initiation«, antwortet sie. » Ich bin gerne bei den Ferox, aber die Jungs nehmen die Ferox-Mädchen während der Ausbildung nicht wirklich ernst. Irgendwann hatte ich die Nase voll davon. Also habe ich mir gedacht, wenn ich nicht wie ein Mädchen aussehe, werden sie mich vielleicht auch nicht wie ein Mädchen behandeln.«
» Es hat auch einen Vorteil, wenn man unterschätzt wird.«
» Ach ja? Hätte ich lieber so tun sollen, als würde ich in Ohnmacht fallen, wenn’s brenzlig wird?« Lynn verdreht die Augen. » Denkst du, ich hätte gar keine Selbstachtung?«
» Ich finde, die Ferox machen einen Fehler, wenn sie Intelligenz geringschätzen«, sage ich. » Man muss seine eigene Stärke den Leuten nicht gleich um die Ohren hauen.«
» Vielleicht solltest du dich von jetzt an blau kleiden, wenn du dich weiterhin wie eine Ken benimmst«, erwidert Lynn. » Außerdem machst du das Gleiche wie ich, nur dass du dir nicht die Haare abschneidest.«
Bevor ich etwas sage, was ich später vielleicht bereue, springe ich aus dem Aufzug. Lynn ist nicht nachtragend, dafür aber umso reizbarer, wie die meisten Ferox. Und wie ich. Nur dass ich sehr wohl nachtragend bin.
Wie gewöhnlich patrouillieren einige Ferox mit großen Gewehren vor den Türen. Direkt vor ihnen stehen ein paar jüngere Ferox; unter ihnen sind Uriah, Marlene, Lynns Schwester Shauna und Lauren, die die Initianten der Ferox ausgebildet hat, während Four die Fraktionswechsler trainierte. Wenn sie den Kopf bewegt, glitzert ihr Ohr– ein Piercing reiht sich an das andere.
Lynn bleibt so unvermittelt stehen, dass ich ihr aus Versehen in die Hacken trete. Sie flucht.
» Wie charmant du doch bist«, sagt Shauna spöttisch zu Lynn. Abgesehen von
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