Die Besucher
Hals, zum Abendbrot die Treppe hinab, wobei sie im Stillen bedauerte, daß sie ihre Freundinnen in dieser Kleidung ebenso wenig sehen konnten wie den befrackten Akademiker, der in Gesellschaft des Technikers Karas in der Küche den Tisch des einstigen Genies deckte.
Bisher hatte das alles einem verrückten Spiel geglichen, dessen Regeln niemand kannte. Es begann ihnen jedoch Spaß zu machen, daß man gerade sie dafür ausgewählt hatte und daß sie mitspielen durften. Die tranchierten Eier strömten einen anregenden Geruch aus. An den Bildschirmwänden an der Museumsdecke brannten Kerzen. Die Musik spielte eine Mozartweise, und weiß gekleidete Kellner servierten von Silberschüsseln Vorspeisen oder schenkten schwarz gekleideten Herren und deren Damen in Abendtoilette, Wein oder Likör ein.
Leider handelte es sich jedoch nur um einen zeitgenössischen Filmstreifen aus den Jahren um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts. Er wurde an die Bildschirmwände geworfen, um die Expeditionsmitglieder über die Tischsitten der Vergangenheit zu informieren. Als dann der Expeditionstechniker Kane (nunmehr Karas) in der Küche aus einer Glaskaraffe eine kristallklare Flüssigkeit in ein Glas einschenkte, konnte er, nachdem er den Trank gekostet hatte, nur enttäuscht feststellen:
»Wasser...«
»Was haben denn Sie erwartet?«
»Zu Hause hätte ich Melonensaft getrunken...Der schmeckt zum Ei am besten...« Dabei kämpfte Karas enttäuscht mit dem Maxi-Ei, dessen Größe an die eines Straußeneis erinnerte. Sobald er sich ihm aber mit Messer und Gabel näherte, wollte es um keinen Preis stillhalten, sondern fiel immer wieder vom Teller. Wütend hielt er es mit einer Hand fest und schielte dabei auf die Bildschirmwand mit dem Film aus dem Jahre 1984. In den Kelchen perlte der Sekt. Weiß gekleidete Kellner trugen Hummer und Austern auf. »Das nennt sich Lehrfilm, und niemand kann uns sagen, was diese Leute essen. Diese Dinger mit den Scheren und Antennen vorne sehen gar nicht schlecht aus.«
»Sie haben nicht darauf zu achten, was diese Leute essen, sondern wie sie es essen! Nicht mit den Fingern! Mit Messer und Gabel!« murmelte der Akademiker, der mit den unbekannten Instrumenten selbst seine liebe Not hatte, als er versuchte, mit ihrer Hilfe das Dotter vom Eiweiß zu trennen. »Die Gabel hat drei Zinken, und wie Sie sehen, hält man sie in der linken, das Messer in der rechten Hand. Unser Eierzerleggerät >Amicus< gab es damals noch nicht, damit müssen wir uns abfinden. Neben den Nahrungsmittel-Konzentraten, von denen wir eine kleinere Menge mitführen, werden wir uns notfalls auf natürliche Halbkonserven, wie Apfelsinen, Äpfel und Bananen einstellen. Kurz, auf alles, was von Natur aus eine Schale oder Haut hat. Wir dürfen allerdings nicht überrascht sein, wenn wir feststellen, daß zum Beispiel Eier im zwanzigsten Jahrhundert recht klein...etwa so groß wie unsere Radieschen waren. Eine komplizierte Zeit...«
»Daran hätte ich aber nicht genug!« wendete Karas (vormals Kars), der jetzige Fahrer und Techniker der Expedition, ein, indem er versuchte, den Inhalt seines Maxi-Eis damit zu vergleichen. »Da müßte ich zum Abendbrot mindestens sechs, vielleicht sogar acht solche Eier essen. Oder etwas von diesem goldbraunen Zeug, das diese Leute im Film eben essen!«
In jenem uralten United-Artists-Film hatte das Diner soeben seinen Höhepunkt erreicht. Die Kellner boten den Gästen jetzt von einem goldbraun gebratenen Truthahn mit Kastanien-, Mandel- und Rosinenfüllung an.
»Entsetzlich!« Erblassend schob Doktor Noll den Rest seines Abendbrots von sich. »Wie wir sehen, aß man damals aus Not allerhand: gebratene Enten, Gänse, schwerverdauliche Mehlspeisen. Als Arzt dieser Expedition werde ich natürlich nie...und das betrifft auch Sie, Karas...«
Das Wort »gestatten« blieb ungesagt. Das Bild des Festmahls an der Bildschirmwand wurde nämlich langsam ausgeblendet und verschwand. Statt des gebratenen Puters erblickte Doktor Noll plötzlich sich selbst, nämlich sein eigenes Gesicht in einer Makro-Vergrößerung, während in der Jackentasche des an seiner Seite sitzenden Technikers etwas durchdringend piepste und eine Kinderstimme aus dem Audivox-Gerät sagte:
»Bist du dort, Papi? Wir sehen dich gerade! Auch die Mutti! Ihr seid in den Nachrichten!«
Genau! Alle waren dort: Emilia. Der Techniker. Der Doktor. Und Philipp.
»Die Allerbesten der Besten, so wie sie der Zentraldenker ausgewählt hat, auf
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