Die Bibliothek des Zaren
Hauptmann von Dorn«, sagte der Apotheker und fasste Cornelius bei der Hand, um sie zu drücken, schluchzte dann aber auf, setzte zu einem Kuss an und beschmatzte ihm tatsächlich einmal die Fingerknöchel, bevor der Hauptmann auch nur seine Hand wegziehen konnte. »Ich bin ein alter, schwacher Mann. Es ist so leicht, mich umzubringen. Und dann werden alles Wissen und alle Geheimnisse, die ich besitze, für immer verschwinden. Und mein Verstand erlöschen. Ach, was für ein Verlust!«
Von Dorn hörte nur mit halbem Ohr hin, denn ihm machte ein ganz anderer Verlust zu schaffen. Der Taschenspiegel zeigte dem untröstlichen Hauptmann einen Mund mit einer klaffenden Zahnlücke. Und die hatte er fürs ganze Leben! Ganz zu schweigen davon, dass sein einziger Vorzug gegenüber dem glänzenden Fürst Galizki unwiederbringlich dahin war. Jetzt wirst du nie mehr den Damen zulächeln, nicht auf vier Fingern pfeifen, nicht mit einem krachenden Biss ein Stück von der gebratenen Hammelkeule abreißen können . . . Der Teufel soll diesen Apotheker mit seinen Ergüssen holen, sie hätten ihm besser da in der Gasse klammheimlich die Gurgel durchschneiden sollen!
»Iss gebe Euss Soldaten, die Euss nach Hause begleiten«, sagte Cornelius brummig und hätte fast aufgestöhnt: Zu allem Übel lispelte er auch noch!
»Mein lieber, teurer Herr von Dorn«, sagte Walser erschreckt, »könntet Ihr mich denn nicht selbst begleiten? Ich habe mit Euch etwas sehr Wichtiges zu besprechen. Es geht um etwas sehr Interessantes, das kann ich Euch versichern.«
Cornelius konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was für ein interessantes Gespräch er mit diesem langweiligen Zwerg haben könnte. Über Klistierröhren? Über gelehrte Traktate?
»Nein. Der Dienst geht vor«, schnitt ihm der Hauptmann, der sich möglichst kurz fasste, um nicht zu lispeln, das Wort ab. Hol’s der Teufel. »Dienscht«!
Der Ton des Apothekers änderte sich auf einmal. Er klang nicht mehr bittend, sondern schmeichelnd.
»Hört doch auf, Euch an den Ruinen Eurer Zähne zu weiden. Ich setze Euch neue Zähne ein, die weißer als Eure alten sind! Und das umsonst. Ich habe noch ein kleines Stück vom Knochen eines afrikanischen Einhorns, ich habe es für die höchsten Herrschaften aufbewahrt, aber für Euch ist es mir nicht zu schade.«
Der Hauptmann reagierte prompt:
»Man kann Zähne einsetzen? Im Ernst?«
»Natürlich geht das! Ich habe hier in Moskowien kein übles Vermögen verdient, indem ich wunderbare künstliche Zähne für reiche Städterinnen gemacht habe, aus Walrosszahn und Elfenbein, und für große Modenärrinnen sogar aus geschliffenem Perlmutt.«
Von diesen sich plötzlich öffnenden Horizonten hellten sich Cornelius‘ Gesicht und Seele auf.
»Aus Perlmutt; das ist wunderbar! Ich möchte auch welche aus Perlmutt!«
Walser runzelte die Stirn und sagte:
»Einhorn ist sehr viel besser. Nach ein, zwei Jahren fängt Perlmutt an zu bröckeln, während das Horn des Rhinozeros bis zum Grab hält. Und vergesst nicht, was die Alten über die magischen Fähigkeiten des Einhorns geschrieben haben. Sein Knochen bringt Erfolg, schützt vor Krankheit und, was die Hauptsache ist, lässt die Herzen der Frauen höher schlagen.«
Der Apotheker blinzelte listig, und der Hauptmann gab sich sofort geschlagen:
»Ja, Einhorn, das ist es, was ich brauche. Was sitzt Ihr hier herum? Steht auf und lasst uns gehen! Ja, ich begleite Euch. Wann macht Ihr mir die neuen Zähne?«
»Wenn es Euch passt, sofort, während wir uns unterhalten. Ich entferne die Wurzeln, mache einen Abdruck, schleife die neuen Zähne zurecht und setze sie ein. Ihr könnt damit natürlich nicht in Antonow-Äpfel beißen, aber den Mädchen zulächeln könnt Ihr, so viel Ihr wollt.«
Hol sie der Teufel, die Antonow-Äpfel. Cornelius hatte sie probiert. Sie waren ihm zu sauer.
Sie mussten weit gehen, über die Mauer der Weiß-Stadt und den Skorodom-Erdwall hinaus, aber nicht in Richtung Kukuj, wo die Ausländer alle wohnten, sondern in eine gewöhnliche russische Vorstadt.
»Wundert Euch nicht«, sagte Walser, der Mühe hatte, mit dem weit ausschreitenden Hauptmann mitzuhalten, »als ich nach Moskowien kam, habe ich als Erstes den hiesigen Glauben angenommen und kann mich deshalb niederlassen, wo ich will. Ich habe da meine Ruhe, keiner meiner Landsleute steckt seine Nase in meine Angelegenheiten.«
Cornelius war erschüttert. Ein Renegat! Ein Abtrünniger! Dabei wirkte der Alte äußerlich so
Weitere Kostenlose Bücher