Die Bleiche Hand Des Schicksals
Reparaturkosten vermutlich ebenso gut mit Zwanzigdollarnoten decken konnte, und schwor sich, dem Gemeindevorstand gegenüber niemals, niemals den Namen von Roxanne Lunt oder die Möglichkeit zu erwähnen, das Pfarrhaus zu verkaufen.
»Da wären wir«, trällerte Roxanne und drehte den Knauf einer getäfelten Eichentür, die mindestens zweimal so dick war wie ihr modernes Gegenstück. Sie drückte auf einen Messingschalter, und drei Kugellampen aus Milchglas erwachten zum Leben, beleuchteten Dutzende und Aberdutzende von Kästen, die an den Wänden entlang gestapelt waren, sich vor einem wunderschön geschnitzten Kaminsims türmten und drei hohe Fenster an der gegenüberliegenden Wand zur Hälfte verdeckten. Clare konnte auf einigen der am nächsten stehenden Kästen die schwungvoll mit schwarzer Tinte vermerkten Inhaltsbeschreibungen lesen: DAMENKOMITEE ZUR VERSCHÖNERUNG DER STADT 1916–1936 und FAMILIE LANGWORTHY/BÜRGERKRIEG.
»Das war früher das Kinderzimmer«, erklärte Roxanne. »Damals, als man Kinder noch sah, aber nicht hörte.« Sie führte Clare durch das Labyrinth der Kästen zur Rückseite des Raums, wo man einen Holztisch vor ein viertes Fenster geschoben hatte. Darauf befanden sich ein PC, eine Lampe, mehrere Stapel alter Bücher und ein Kunststoffköcher mit Büroutensilien.
Clare beugte sich über den langen Tisch, um aus dem Fenster zu sehen. Unten erstreckte sich der eisbedeckte Garten bis zu einem grün gedeckten Kutscherhaus, dessen Türen zur hinteren Gasse gingen. Sie konnte Teile der Klinik nebenan erkennen, deren Anbauten bis zu einem identischen Kutscherhaus reichten und nach und nach das bisschen Garten verschlungen hatten, das es einst gegeben haben mochte.
»Ihre Aufgabe ist sehr einfach. Sie öffnen einen Kasten, zeichnen alles aus, was darin ist, und geben die Beschreibung in den elektronischen Katalog ein«, sagte Roxanne, während sie den PC hochfuhr. »Nichts in diesem Raum ist erfasst. Lesen Sie einfach die Schildchen auf den Kästen und suchen sich einen aus«, empfahl sie, zog einen gepolsterten Klappstuhl heraus und setzte sich vor den Bildschirm. »Wir haben versucht, Schenkungen von Familien oder Institutionen zusammenzulassen, auch wenn wir sie aus den verrottenden Truhen und Alben geborgen haben, in denen sie bei uns eintrafen, und in Archivkästen verstaut haben. Wenn möglich, haben wir säurefreies Papier zwischen die Ephemera gelegt.«
»Ephemera?«
»Papiere, Briefe, Fotos, solche Sachen. Wir besitzen dreihundert Jahre alte Flugblätter, die die südlichen Adirondacks als Ort anpreisen, an denen ein Schotte reich werden kann, wir haben Werbekalender aus der Zeit des Kanalbaus, Spielpläne der Oper von Millers Kill …«
»Millers Kill hatte eine Oper?« Clare konnte den ungläubigen Tonfall nicht unterdrücken.
Roxanne lachte. »Bevor die Fabriken schlossen, war es eine sehr lebhafte Stadt. Im neunzehnten Jahrhundert hatten wir ein Opernhaus für Gastspiele. Nahe des Bahnhofs stand ein Luxushotel für Leute, die den Sommer auf dem Land verbrachten, sehr elegant. In den zwanziger und dreißiger Jahren, nach dem Dammbau am Sacandaga und dem Anlegen der Seen, hatten wir unseren eigenen Flughafen mit Wasserflugzeugen. Und selbstverständlich war die ganze Strecke der Route 9 während der Prohibition als Schnapsschmugglergasse bekannt. Rumschmuggler reisten auf dieser Strecke von Kanada nach New York, um die Flüsterkneipen zu versorgen. Wir besitzen eine kleine Sammlung fabelhafter Jazzaufnahmen aus den Klubs von Millers Kill, bei denen man dreimal an die Tür klopfen und ›Joe schickt mich‹ flüstern musste, um eingelassen zu werden.« Roxannes Wangen glühten vor Begeisterung. »Das ist natürlich lange vorbei. Ich fürchte, unsere heutige Anziehungskraft setzt sich aus Frieden, Ruhe und erschwinglichen Immobilienpreisen zusammen.«
Clare dachte an die Auseinandersetzung zwischen dem Arzt und Debba Clow. »Ach, ich weiß nicht so recht. Ich finde, es ist nach wie vor eine sehr lebhafte Stadt. Man muss nur genau hinsehen.«
5 Freitag, 10. März
C lares Beratungssitzung mit den Garrettsons um 10:30 Uhr hatte Überlänge. Liz Garrettsons Mutter, ein Anlass zu ständigen Konflikten im Heim der Garrettsons, war mittlerweile so gebrechlich geworden, dass sie entweder in ein Pflegeheim eingeliefert werden oder zu ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn ziehen musste. Liz und Tim kreisten um Liz’ Zorn und Tims Ungeduld, zwei Menschen, die auf einen Sandsack voller
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