Die Blume der Diener
einem Augenblick wütender Verblüffung erkannte Margaret ihre Tochter. Nicht nur ihre Gestalt war unvertraut; die Rundungen ihrer Brüste und Hüfte waren unter einem ausgepolsterten Wams verborgen und die langen Beine von der Hose versteckt. Nein, es war vor allem die Jugendlichkeit ihrer Widerspiegelung, die sie so fremd erscheinen ließ. Obwohl sie eine Frau von vollen neunundzwanzig Jahren war, sah sie als Junge kaum wie neunzehn aus. Ihr weizengoldenes Haar war im Nacken kurz geschnitten und rahmte rund die Stirn ein, wodurch ihr Gesicht ein anderes Aussehen erhielt. Sie stand in einem breiten Durchgang, der mit feinen Wandteppichen behangen war und von Pagen, Türstehern und Junkern überquoll. Manchmal hielt sie einen Pagen an und warf einen Blick auf das, was er trug. Ihr Gesichtsausdruck war friedvoll und eifrig: Sie sah glücklich aus.
Margaret bleckte vor Wut die Zähne. Sie hatte sich vorgestellt, wie ihre Tochter bettelte, dem Verhungern nahe war, sich in ein Kloster oder sogar in ein Bordell zurückzog, aber ihr wäre nie der Gedanke gekommen, dass sie in Männerkleidern als Diener eines reichen Mannes wirkte. Sie weiß es, dachte Margaret. Irgendwie wusste dieses Dreckstück alles über ihre Mutter und über das, was sie getan hatte, und dieser Mummenschanz war nur der erste Teil einer langen und verzwickten Rache.
Ungleich dem Hasen, dessen einziges Verlangen es ist, den Hunden zu entkommen und sich zu verstecken, spielt der Fuchs mit den Hunden, die ihn jagen. Er zeigt sich, wenn sie die Fährte verloren haben, und narrt sie mit falschen Fährten. Wenn aber der Fuchs müde wird, während die Meute ihm noch auf der Spur ist, rennt er wild und kopflos hierhin und dorthin. Der Zufall führt ihn vielleicht in ein Erdloch, wohin ihm die Hunde nicht folgen können. Aber öfter findet er sich im Gestrüpp oder vor einer Steinwand wieder und schnappt in rasender Angst sogar dann noch nach den Hunden, wenn sie ihn bereits zerreißen.
Bis zu diesem Augenblick hatte Margaret wie eine Füchsin ihre Ängste im Griff gehabt und genarrt. Doch der Anblick ihrer Tochter – in Sicherheit, munter, zufrieden – wirkte auf sie, wie stechender menschlicher Schweiß auf Pferde wirkt. Ein ganzes Rudel von Zweifeln und nächtlichen, grauenvollen Gedanken bellte sie plötzlich an und schnappte nach ihren Fersen. In panischer Hast rannte Margaret zu den Bücherregalen und zog wahllos ein Dutzend Bände mit Verderbenssprüchen hervor. Das Pergament knisterte und knitterte, als sie sich mit zitternden Händen durch die Seiten tastete. Eine lodernde Pest erregte ihre Aufmerksamkeit: tödlich, schnell und so ansteckend wie der Ruf »Feuer!«
Die Pest – warum war ihr das nicht schon vor Jahren eingefallen? Wenn Menschen krank wurden und andere mit ihrer Krankheit ansteckten, konnte man Margaret nicht für deren Tod verantwortlich machen. Drachenkrebs, Rattenmilz, Flohzahn, Mörderdung – das alles klaubte sie im Handumdrehen zusammen. Nach wenigen Stunden hatte sie diese ganzen Zutaten zu einer tödlichen Fieberessenz destilliert.
Nun herrschte bereits volles Tageslicht; die Sonne stand hoch und hell in einem klaren Frühlingsmorgen. Margaret zog schwere Vorhänge vor die Fenster, um selbst die schwachen Lichtspeere auszuschließen, die durch die Schlagläden zu dringen vermochten. Sie nahm das Horn vom Haken und rief mit zwei kurzen Tönen einen kleinen, zugigen Dämon herbei. Diesen Luftzug stattete sie mit der Fieberessenz aus und befahl ihm, jeden, den er traf, mit der Pestilenz anzuhauchen – außer der Frau in Männerkleidern. Dann sank der Teufel mit seiner schweren Last in die Halle ein, die sich noch immer im Spiegel zeigte.
Kapitel Drei
Am Morgen des Gründonnerstags brach ein Page auf dem Steinfußboden der königlichen Kapelle während der Messe zusammen. Seine Freunde schrieben diesen Schwächeanfall dem übereifrigen Fasten zu und ließen ihn liegen, bis das benedicite erklang. Aber es fiel schwer, ihn aufzurichten, und sein Gesicht und seine Hände brannten so heiß wie glühende Kohlen. Am Karfreitag starb er und alle, die in seiner Nähe gekniet hatten, klagten über schmerzende Knochen und Schwindelgefühle.
Der Ostermorgen dämmerte ohne Freude über einem Bild der Schmerzen und des Todes herauf, das eher zu einem Pesthaus als zu einem königlichen Schloss passte.
Der Verlauf der Krankheit war einfach: Zuerst zwang ein Fieberausbruch Ströme von stinkendem Schweiß aus dem Körper des Erkrankten.
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