Die Blutige Sonne - 14
Der letzte Widerschein der Sonne erlosch. Einen Lidschlag lang haftete das Bild des Turmes in fahlen, blaßvioletten Umrissen auf der Netzhaut seiner Augen, dann löste es sich im feinen Regen auf. Ein einsamer Lichtschein versuchte tapfer, den aufsteigenden Nebel zu durchdringen, dann wurde auch er verschluckt. Kerwin wischte sich die Regennässe vom Gesicht, kehrte dem Turm der Com’yn entschlossen den Rücken und ging in die Stadt hinunter.
Er fand ein Plätzchen, wo man sich nicht darum kümmerte, ob er Terraner oder Com’yn war, wo man nur auf die Farbe seiner Geldscheine achtete, wo er nur für sich war, ein Bett und genug zu trinken bekam, um die Erinnerungen zu ertränken, dieses unausbleibliche, vergebliche Wiedererleben der Wochen in Arilinn. Die Zukunft mochte warten. Er wollte nichts denken. Er schlief auch endlich ein, aber aus der Dunkelheit stiegen verwischte Stimmen und Gesichter, wolkenhafte Erinnerungsfetzen, die wie ein Alpdruck auf ihm lasteten. Dann wachte er zu neuem Bewußtsein auf aus einem Schlaf, der mehr einer Betäubung glich, kämpfte sich durch zur Erinnerung, wer und wo er war – und sah sie alle zu Füßen seines Bettes stehen.
Zuerst glaubte er an eine Nachwirkung von schlechtem Whisky; dann nahm er an, er sei wahnsinnig geworden. Dann hörte er Taniquels bestürzten, mitleidigen Ruf; sie ließ sich neben ihn aufs Bett fallen, und dann wußte er, daß sie wirklich da waren. Er rieb sich die Augen mit den Fäusten, befeuchtete mit der Zunge seine ausgedörrten Lippen und schüttelte den Kopf.
„Hast du wirklich geglaubt, wir würden dich so gehen lassen?“ fragte Rannirl bewegt.
„Auster …“, flüsterte er.
„… weiß nicht alles, nicht einmal über uns“, antwortete Kennard. „Jeff, kannst du uns jetzt vernünftig zuhören?“
Jeff setzte sich auf. Das Durcheinander in seinem Versteck, die leere Flasche auf seinen zerknüllten Decken, der Schmerz in seinem verwundeten Arm, alles schien genauso unwirklich zu sein wie die Anwesenheit der Com’yn. Taniquel hielt seine Hand, Corus sah besorgt drein, Rannirl beobachtete ihn mit freundlich prüfender Miene, Auster stand bedrückt dahinter. Elories Gesicht war eine weiße Maske, ihre Augen waren rot und verschwollen. Elorie – und sie weinte!
Er ließ Taniquels Hand los. „Mein Gott, warum müssen wir das alles ertragen? Hat Auster euch denn nichts gesagt?“
„Er hat uns eine ganze Menge erzählt“, antwortete Kennard, „und alles hängt mit seinen eigenen Ängsten und Vorurteilen zusammen.“ „Das leugne ich nicht“, gab Auster zu. „Ich frage mich nur, ob diese Ängste und Vorurteile nicht doch berechtigt sind.“
„Wir können dich nicht fortgehen lassen, Jeff“, sagte Taniquel. „Du gehörst zu uns, und wohin willst du denn gehen? Was willst du tun?“
Kennard winkte dem Mädchen, es solle schweigen. „Kerwin“, erklärte er, „als wir dich nach Arilinn brachten, haben wir das Risiko mit einkalkuliert. Es war ein Schlag gegen dunkle Magie und Tabus, der erste Schritt dazu, die Arbeit am Matrix zu einer Wissenschaft zu machen und nicht – zu einer Priesterschaft.“
„Du sprichst hier für dich selbst“, warf Rannirl ein. „Ich gebe Kennard darin nicht recht, Kerwin, aber in einer Sache stimme ich ihm zu: Wir wußten, daß es ein Risiko war, und wir waren bereit, es auf uns zu nehmen.“
„Aber könnt ihr denn nicht verstehen, daß ich nicht bereit bin, dieses Risiko einzugehen?“ Kerwins Stimme klang gebrochen. „Wenn ich doch selbst nicht einmal weiß, was sie mir zu tun befehlen – wie ich euch vernichten könnte.“
„Vielleicht war es der Weg, uns zu vernichten“, sagte Corus bitter, „daß wir dir vertrauten, an dich glaubten, damit du dich gegen uns wenden kannst, sobald wir von dir abhängen.“
„Das ist eine verdammt unfaire Art, es so anzusehen“, antwortete Jeff heiser. „Versteht ihr denn nicht, daß ich versuche, euch zu retten? Ich kann es nicht riskieren, derjenige zu sein, der euch vernichtet.“
Taniquel beugte sich zu ihm nieder und legte ihre Wange auf seine Hand. Sie weinte lautlos. Austers Gesicht war hart. „Er hat recht, Kennard, und das weißt du auch. Wenn du das hier noch in die Länge ziehst, dann tust du uns allen weh.“
Kennard stand mühsam auf und sah einen nach dem anderen voll Verachtung und unterdrücktem Ärger an. „Ihr seid alle Feiglinge! Nun haben wir die Möglichkeit, gegen diesen verdammten Unsinn anzukämpfen…“
„Du verteidigst
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