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Die blutige Sonne

Die blutige Sonne

Titel: Die blutige Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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seine Erinnerungen nur aus Halluzinationen bestanden.
    Und schließlich war der Schlafsaal alt, und viele Jungen hatten das gleiche getan. Die darkovanischen Pflegerinnen und die Erzieher hatten ihnen auf manchen Gebieten eine Menge Freiheit gelassen. Zu seiner Zeit war der Schlafsaal wohl recht sauber und ordentlich gewesen, hatte aber die Spuren zahlreicher Kinderstreiche und Experimente mit Spielzeug getragen.
    Er stieg nach oben. Er kam an einer offenen Klassenzimmertür vorbei und versuchte, leicht aufzutreten, aber zwei oder drei Köpfe drehten sich nach ihm. Also hörten sie jemanden über den Flur gehen. Na und? Trotzdem hob er sich auf die Zehenspitzen und gab sich Mühe, so wenig Geräusch wie möglich zu machen.
    Eine darkovanische Frau kam den Gang entlang. Ihr Haar war tief im Nacken geknotet und mit einer ledernen Schmetterlingsspange befestigt. Ihr langer karierter Rock und ihr Umschlagtuch dufteten leicht nach Weihrauch. Sie sang leise vor sich hin. Sie betrat eins der Zimmer und kam mit einem schläfrigen Kleinkind in den Armen wieder heraus. Kerwin erstarrte, obwohl er wußte, daß er unsichtbar war. Die Frau schien ihn nicht wahrzunehmen. Sie summte immer noch ihr Berglied.
    » Laszlo, Laszlo, dors di ma main …«
    Kerwin hatte das Lied in seiner eigenen Kindheit gehört. Es waren törichte Reime über einen kleinen Jungen, dessen Pflegemutter ihn mit Kuchen und Süßigkeiten vollstopfte, bis er nach Brot und Milch schrie. Er erinnerte sich, daß man ihm einmal erzählt hatte, das Lied gehe auf die historische Periode zurück, die die Zeit der hundert Königreiche genannt wurde, und die Hastur-Kriege, die ihnen ein Ende machten, und die Verse seien eine politische Satire auf zu wohlwollende Regierungen.
    Kerwin trat zur Seite, als die Frau an ihm vorüberging. Er spürte das Wehen ihrer Gewänder. Jetzt waren sie auf gleicher Höhe. Sie runzelte fragend die Stirn und hielt mit Singen inne. Hatte sie ihn atmen gehört, hatte sie an seiner Kleidung einen fremden Geruch wahrgenommen?
    » Laszlo, Laszlo …« begann sie von neuem mit ihrem Liedchen, aber das Kind in ihren Armen verrenkte sich, bis sein Gesichtchen über die Schulter der Frau und geradewegs auf Kerwin blickte. Der Kleine sagte etwas in Babysprache und wies mit einem pummeligen Fäustchen auf Kerwin. Die Pflegerin drehte sich um.
    »Was für ein Mann? Es ist niemand da, Chiy’llu «, schalt sie sanft, und Kerwin machte kehrt und schlich auf Zehenspitzen den Flur hinunter. Sein Herz pochte plötzlich laut. Konnten die Augen eines Kindes Elories Illusion durchdringen?
    Oben an der Treppe blieb er stehen und versuchte, sich zu orientieren. Schließlich meinte er, das richtige Zimmer gefunden zu haben, und ging darauf zu.
    Es war ruhig und von Sonnenlicht durchflutet. Acht kleine, ordentlich gemachte Betten, jedes in seiner Zelle, standen an den Wänden, und in dem offenen Raum dazwischen war eine Gruppe von Spielzeugfiguren, Männer und Gebäude und Raumschiffe, auf einem kleinen Tisch aufgebaut. Kerwin ging vorsichtig um das Spielzeug herum. In den Mittelpunkt der Gruppe war ein hoher weißer Wolkenkratzer gestellt worden. Kerwin seufzte. Die Kinder hatten das terranische HQ gebaut, das in ihren Gedanken so hoch emporragte.
    Er verschwendete Zeit. Er trat an die Fenster und fuhr mit den Fingern die Riefe in Augenhöhe entlang. Nein, da waren keine Buchstaben eingeschnitzt … Plötzlich wurde er sich bewußt, was er tat. Ja, er hatte seine Initialen in Augenhöhe angebracht, aber in der Augenhöhe eines Neunjährigen, nicht der eines Mannes von mehr als zwei Metern!
    Er bückte sich und tastete noch einmal auf halber Höhe. Ja, da waren Schnitzereien in dem weichen Holz, grobe Kreuze, Herzen, Kästchen mit Ixen und Nullen. Und dann, ganz links, in den viereckigen Lettern des Terra-Standard-Alphabets, entdeckte er die kindliche Arbeit seines ersten Taschenmessers.
    J. A. K. JR.
    Erst als er die Buchstaben sah, merkte er, daß er zitterte. Seine Fäuste waren so fest geballt, daß seine Nägel die Handflächen verletzten. Bisher hatte er sich nicht eingestanden, daß er daran gezweifelt hatte, die Buchstaben zu finden. Aber jetzt, als er die ungeschickten Einschnitte im Holz berührte, wußte er, daß er an seiner eigenen geistigen Gesundheit gezweifelt hatte.
    »Sie haben gelogen, gelogen!« sagte er laut.
    »Wer hat gelogen?« fragte eine ruhige Stimme. »Und warum?«
    Kerwin drehte sich schnell zur Tür um. Ein kleiner, stämmiger,

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