Die Blutmafia
parkte den Wagen direkt vor dem großen alten Haus in der Herzogstraße. Es war ihr vollkommen egal, daß eine Politesse einen Häuserblock weiter unten dabei war, Strafzettel unter die Scheibenwischer zu klemmen.
Die Haustür war angelehnt. Harrys Atelier befand sich im Erdgeschoß. › HT -Marketing Consultants‹ stand hier. Was immer das sein mochte – es schien viel mit Plakaten und imponierenden graphischen Leistungskurven zu tun zu haben.
Vera brauchte nicht lange in dem lichtdurchflossenen Büro zu warten. Ein Gespräch mit den Sekretärinnen fiel in diesem Zustand ohnehin flach, und da war Harry auch schon: rotes Kraushaar, rote Cordhosen, schwarze Slipper, schwarzer Pulli – die Arme weit ausgebreitet.
»Vera, komm an mein Herz! Na, das ist vielleicht 'ne Überraschung …« Seine Brauen schoben sich zusammen, und sein Gesichtsausdruck wurde wachsam. »Ist was? – Na, komm schon rein, Kleines.«
Er hielt ihr die Tür des Büros auf, und sie versank in einem der riesigen Stahl- und Lederburgen von Sesseln. »Ja, es ist was, Harry.«
»Mit Rio?«
Sie nickte. »Er ist in Berlin.«
»Weiß ich doch! Er hat ja die Schlüssel vom Appartement geholt. Und?«
Sie beugte sich nach vorne: »Harry, glaub mir, ich würde dir so gerne alles erklären, aber ich kann nicht. Wirklich nicht. Noch nicht. Doch es ist dringend. Das mußt du mir abnehmen. Es ist … es ist schlimm …«
»Hat es mit seiner Krankheit …«
»Nein. Es hat nicht damit zu tun. Das heißt, bedingt vielleicht …«
Sie spürte, wie die Hitze in ihre Schultern hochkroch und wie mit der Hitze wieder die Augen zu brennen begannen. Sie würde nicht losflennen, bei Gott nicht, aber ihre Hände zitterten so, daß sie sie um ihre Handtasche verkrampfte. »In gewissem Sinne schon, ja – aber auch das kann ich dir nicht erklären …«
»Und was kann ich dabei tun?«
»Harry, ich muß ihn erwischen! Unbedingt. Ich muß mit ihm sprechen. Wieso hast du bloß in dieser blöden Bude kein Telefon?«
»Weil blöde Buden manchmal nur ohne Telefon zu ertragen sind …«
Er setzte sich neben sie auf die Sessellehne, nahm ihre Hand und drückte sie. »Also?«
»Du hast doch so viele Freunde in Berlin, Harry … Und vielleicht gibt's in dem Haus jemanden, den du kennst?«
»Den Hausmeister gibt es.« Er rieb sich die Nase. »Aber halt mal, Moment … ich könnte ein Fax an Winfried schicken. Der ist Rechtsanwalt. Und er hat seine Praxis nur ein paar hundert Meter vom Appartement entfernt. Aber was soll er tun, wenn er Rio erwischt?«
»Was er tun soll? Er soll ihn in seine Kanzlei schleppen, lebendig oder tot. Und dann soll er sofort anrufen.«
»Und wenn Rio nicht im Appartement ist?«
»Wenn nicht – ja dann … Ja, dann könnte er doch einen Brief schreiben. Oder besser noch: Ich schreibe den Brief, und wir senden ihn gleichfalls durchs Fax.«
Vera sah zu Harry hoch. Hilflos dachte sie: Das ist nicht wahr! Bei Gott, das alles kann nicht wahr sein!
Und dann war es, als senke sich eine Sperre in ihr. Vielleicht, daß sich Kiefers Schwester verhört oder sonst irgendwie getäuscht hatte? Vielleicht waren ihre Ohren nicht die besten, vielleicht hatte sie einiges falsch verstanden? – Aber so ein Fax kann jeder lesen. Und deshalb konnte sie jetzt nicht schreiben: »Rio! Ich flehe Dich an: Werd nicht zum Mörder …«
Mit zitternder Hand und in krakeligen, großen Buchstaben schrieb Vera:
R IO ! W AS IMMER MIT DIR IST , WAS IMMER DU VORHAST – I CH BITTE DICH : D ENK AN UNSER K IND ! R UF MICH AN , SOFORT , WENN DU DIESE N ACHRICHT ERHALTEN HAST , HEUTE NOCH , R IO .
W IR LIEBEN DICH – V ERA
Bis zu der steinernen Umfassungsmauer, die Engels Grundstück umschloß, war Ludwig Kiefer im dritten Gang gefahren. Nun wurde es schwierig, denn nun begann einer dieser unmöglichen Bauernwege der Gegend: Löcher, wo man hinsah, und daneben wölbten sich große graubraune Steine wie Schildkrötenpanzer.
Trotz des Mahlens der Räder war das Bellen eines Hundes zu vernehmen …
Die Kleine saß stumm neben ihm. Bisher konnte er aus den Augenwinkeln nur ihr Profil erkennen, nun wandte sie ihm das Gesicht zu und sah hinauf zu dem trotzigen, turmbewehrten Gebäude, das sich über seine Terrassen und Zypressen erhob.
Er folgte ihrem Blick und deutete mit der Pistole in dieselbe Richtung. »Da kommst du schon wieder rauf, Irena. Keine Sorge.«
Aber ohne deinen Vater … Das dachte er, er konnte es ihr jedoch nicht sagen.
Er schaltete in den zweiten Gang.
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