Die Blutmafia
Blick.
»Frau Martin, es ist leider so, wie Ihr Mann es befürchtet hatte …«
Es war ein kleines Café mit geflochtenen, harten Stühlen. Durch die Scheibe konnte Vera das Haus betrachten, in dem sie gerade gewesen war, doch es war nicht allein die rosafarbene, schmutzige Hausfassade, die sie sah, sie sah das Gesicht dieses Dr. Jan Herzog wieder, sah die schlanken, knochigen Finger, die unablässig eine Stelle über der rechten Augenbraue rieben; hörte die Stimme, diese melancholische, leise und doch so freundliche Stimme, die Dinge erklären wollte, die zu ungeheuerlich waren, als daß man sie erklären konnte.
Und trotzdem – jedes Wort, jedes einzelne dieser Worte war wieder da: »Im Grunde, Frau Martin, ist ja eigentlich nur der direkte Blutkontakt gefährlich. Er kann über kleine Verletzungen entstehen. Aber das ist bei heterosexuellen Paaren ziemlich selten. Deshalb liegt statistisch gesehen die Ansteckungsrate bei Eheleuten nur um die zwanzig Prozent. Die Erfahrung hat inzwischen gezeigt, daß Speichel oder Körpersekrete das Infizierungspotential des Virus weitgehend neutralisieren.«
Sie hörte es, während er die Nadel in ihre Vene schob, während sie zusah, wie der Kolben der Spritze ihr Blut hochsog. Er hatte darauf bestanden –, sie dürfe um Gottes willen keine Angst haben, aber es sei doch wirklich besser, wenn er auch ihr Blut kontrollieren lasse. Das würde die Situation ein für allemal klären.
Er meine es gut, klar doch. Was sonst? Sie spürte keine Angst. Auf irgendeine, vielleicht vollkommen unlogische Weise war sie sicher, daß ihr nichts passieren konnte. Nur, sie hatte Schwierigkeiten mit seinem komplizierten Medizin-Chinesisch. Aber den Grund der Botschaft hatte sie begriffen.
Speichel und Körpersekrete … Nur zwanzig Prozent … Infizierungspotential … Welche Worte für die Liebe! Er meinte es gut. Klar doch, was sonst? Und sie, sie hatte Schwierigkeiten mit seinem komplizierten Medizin-Chinesisch. Aber den Grund der Botschaft hatte sie begriffen: »Aids, Frau Martin – da befinde ich mich in Einklang mit vielen Fachleuten –, braucht noch lange kein Todesurteil zu bedeuten. Ich versuchte es Dieter Reissner einzuhämmern. Ich habe es auch Ihrem Mann gesagt, denn heutzutage werden Infizierte richtiggehend zu Tode geredet. Nicht nur von Ärzten, vor allem auch von den Medien. ›Tödliche Krankheit‹ heißt es, ›ausweglos, keine Prognose‹ … ›Grauenhaft ist das doch.‹ Das sind alles Totschlagworte, denn wenn sich einer selbst aufgibt, ist es tatsächlich vorbei.«
Dr. Jan Herzog hatte sich in Fahrt geredet, ohne Pause, ohne Komma hatte er geredet – und sie, wie sollte sie das alles verstehen? Was wußte sie von Antigenen, von Antikörpern? Er hatte sie sogar aufgezeichnet, winzig kleine Ketten, die in sich wieder Stellen enthalten, die den Gegner erkennen können. Was wußte sie von Makrophagen, Leukozyten und Lymphozyten, die unter dem Einfluß der T-4-Helferzellen Viren bekämpfen und unschädlich machen können. – »Es sei denn, Frau Martin, sie werden, wie es nun mal bei Aids geschieht, selbst getäuscht … Und trotzdem, viele Patienten überleben. Von diesen Menschen aber, Frau Martin, wird kaum gesprochen. Und sehen Sie, auf sie kommt's an. Wenn Rio auch positiv ist – das, was Sie bei den meisten Aids-Kranken beobachten können, der drastische Abbau der T-4-Zellen, ist nicht eingetreten – die T-4-Zellen geben uns einen exakten Hinweis auf den Zustand eines Patienten und auf die Abwehrkraft seines Immunsystems. Jeder gesunde Mensch trägt tausend und mehr dieser Zellen in einem Mikroliter Blut mit sich herum. Bei HIV-Patienten sind es nur noch wenige Dutzende. Bei Ihrem Mann aber …«
Vera hatte Rotwein bestellt. Rotwein beruhigt. Sie hatte ihr Glas schon halb ausgetrunken. Nun nahm sie den Rest. Ihre Stirn brannte weiter, das Herzklopfen hörte nicht auf, die Fingerspitzen waren kühl.
»Das Entscheidende also, Frau Martin, sagen Sie es ihm: Der Befund ist zwar positiv, aber er hat viele, sehr viele dieser T-4-Helferzellen in seinem Blut. Vielleicht nicht ganz so viele, wie er haben sollte, etwas unter tausend, aber das kann auch mit seinem Allgemeinzustand zusammenhängen, verstehen Sie? Immunsystem und der psychische Zustand sind untrennbar verbunden. Das ist längst erforscht.«
Sie hatte verstanden. ›Positiv‹ – dieses grauenhafte Wort. Ein auf den Kopf gestellter Begriff. Aber es gab die Helferzellen. Sie waren nicht vernichtet wie bei
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