Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
ich erleichtert gewesen wäre, nicht an der Hinrichtung meines leiblichen Bruders teilgehabt zu haben, nicht den Totschlag an meinem leiblichen Bruder zu verschleiern? Denkst du, mein Stolz auf meinen Stand wäre so viel größer als das Gefühl der Schande, zum Geschlecht derer von Torgau zu gehören?«
Seine Stimme klang mit jedem Satz heiserer und gequälter.
Hedwigs Zorn wich einem aufkeimenden Verständnis für all die Gefühle, die er nicht mit ihr geteilt hatte. Niemals hatte er zu erkennen gegeben, wie sehr er unter den Geschehnissen litt. Und nun sah sie Tränen in seinen Augen und musste sich eingestehen, dass sie wahrscheinlich doch mit ihrer Entscheidung im Unrecht gewesen war. Andererseits mochte er sich auch irren und nur vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen glauben, dass der Stand eines in schändlicher Unzucht gezeugten mütterlichen Bastards anziehender für ihn gewesen wäre als der eines ungeliebten, aber legitimen Erstgeborenen von Torgau.
» Weder Reinhardts noch Ludwigs Tod waren deine Schuld, gleichgültig, ob sie deine Brüder waren oder nicht. Dass Brüder oder Väter und Söhne sich nicht ähneln und sich nicht lieben, kommt oft vor. Ich wusste nicht, dass dir so naheging, was geschehen ist.«
Er lachte bitter auf. » Naheging? Auch das ist ein Beispiel für deine seltsame Sicht auf unser Dasein. Gottes Wort sagt uns deutlich, wie schwer die Sünde des Brudermordes wiegt. Bei Reinhardt habe ich gebeichtet und gebüßt, für den Anteil, den ich an seinem Tod hatte. Bei Ludwig… Denke nicht, ich würde dir das vorwerfen– es ist allein mein Fehler, dass ich nicht bedachte, was es bedeuten würde, keine wahre Beichte abzulegen, sondern aus Vorsicht immer weiter an der Lüge festzuhalten. Vielleicht ist dies hier Gottes Strafe dafür, dass wir ihn durch seine Diener wieder und wieder belogen haben. Mir war die Verlogenheit der Welt immer so zuwider. Gott muss meine Überheblichkeit darin gesehen und mir Prüfungen geschickt haben, an denen ich gescheitert bin. Erst ließ ich mich zum geheimen Kundschafter machen, dann zum Beichtlügner.
Ich sollte jetzt in der Kirche auf den Knien liegen und um Vergebung für meine Sünden flehen, statt hier mit dir zu stehen und dir für deine Lügen zu zürnen.«
Hedwig fühlte sich zu müde, um ihn weiter anzuhören oder ihm auch nur eine einzige weitere Antwort zu geben. Sie hätte ihn daran erinnern können, dass die Lüge über Ludwigs Tod sein Beschluss gewesen war, dem sie ausnahmsweise so nachgiebig gefolgt war, wie er es sich von ihr wünschte. Sie hätte ihn daran erinnern können, dass auch er ihr Dinge verschwiegen hatte und jederzeit wieder verschweigen würde, wenn er es für angebracht hielt.
» Wir sollten zu Bett gehen. Es ist sehr spät«, sagte sie leise.
» Geh zu Bett«, erwiderte er. » Ich werde beten. Auch für die Seele meiner sündhaften, verlogenen Mutter.«
In der Frühe erwachte Hedwig von Julis Gesang auf der Treppe. Seit einigen Monaten sang die Kleine und wurde Irina in ihrer lebhaften Gestik immer ähnlicher. Hedwig hatte sich die Frage nie zuvor gestellt, doch nach den Enthüllungen und dem Gefühlsaufruhr des Vortages fragte sie sich an diesem Morgen, ob sie Juli mehr geliebt hätte, wenn sie ihre eigene Tochter gewesen wäre. Und auf einmal fiel ihr ein, warum Hans von Torgau gerade jetzt versuchte, Wilkin zu vernichten.
Die Trauerzeit für seine Gemahlin würde bald vorüber sein. Hedwig hätte darauf gewettet, dass er plante, sich neu zu verheiraten, und dabei hoffte, noch einmal einen Sohn zu zeugen. Damit dieser zu seinem Erben und Nachfolger werden konnte, musste Wilkin aus dem Weg geschafft werden. Da die Wahrheit Hans von Torgau lächerlich hätte dastehen lassen und außerdem seinen Rachedurst nicht gestillt hätte, würde er den Bastard aus anderen Gründen verstoßen oder Schlimmeres über ihn bringen.
Sie setzte sich im Bett auf und stellte fest, dass Wilkin auf dem Boden saß und gegen die Wand gelehnt eingeschlafen war. Sie überlegte kurz, ob sie ihn wecken sollte, legte dann aber nur ihre noch warme Decke über ihn, kleidete sich leise an und schlich aus dem Raum.
Auch der Wachmann an der Vordertür schlief. Er saß auf einem Hocker und lehnte sich gegen die Tür, womit er seine Aufgabe im Schlaf erfüllte. Niemand würde an ihm vorbei aus dem Haus kommen.
Ein weiterer der Wächter war bei Mara und Juli in der Küche, als Hedwig eintrat. Er half Mara beim Feuermachen, was Hedwig für
Weitere Kostenlose Bücher