Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
Fabio.
»Ich habe gerade noch einmal nach den Wunden gesehen. Sie bluten nicht mehr. Ich nehme an, er hat Schlimmeres überlebt.«
»Möchten Sie was trinken? Wir haben Wein. Und Reis haben wir auch noch.« Fabio hatte von Anfang an einen gewissen Entdeckerstolz auf Magdalena und ihre Schwestern erkennen lassen. Bislang hatte er sich darin geäußert, dass er sie ständig mit Essen und Trinken zu versorgen versuchte.
»Nein, danke.« Magdalena sah zu dem Gefesselten hinüber, der auf den Boden starrte. »Hat er schon etwas bekommen?«
»Nein, und er bekommt auch nichts.«
»Was für einen Sinn hat es, ihn zu quälen?«
»Nicht alles, was man so tut, hat Sinn, Schwester.« Fabio zuckte in der Dunkelheit mit den Schultern. »Oder zumindest erschließt er sich nicht jedem auf Anhieb.«
»Dann erschließe du ihn für mich. Seine Kameraden sind tot. Was wollt ihr mit ihm machen? Die Dörfler werden verlangen, dass ihr ihn aufhängt.« Unwillkürlich sprach sie leise. »Warum soll er Hunger und Durst leiden, wenn er morgen sterben wird?«
»Haben Sie gesehen, was er der Frau in der Hütte angetan hat?«, fragte Fabio.
»Willst du mir erzählen, ihr versucht Gerechtigkeit zu üben, indem ihr versucht, ihm einen geringen Teil des Schmerzes heimzuzahlen, den er verursacht hat?«
»Ich will Ihnen gar nichts erzählen, Schwester. Sie wollten etwas von mir wissen. Alles, worum es mir ging, haben Sie schon beantwortet: dass Corto nicht in Gefahr schwebt und dass Sie nichts essen und nichts trinken mögen.«
»Ich kann spüren, dass du mir etwas verheimlichst«, erwiderte Magdalena und versuchte, es leichtherzig klingen zu lassen.
»Ich kann spüren, dass es bald regnen wird.«
»Den beiden Jungen geht es nach ihrem ersten Schrecken recht gut«, sagte Magdalena und versuchte, in Fabios beschattetem Gesicht eine Regung zu erkennen. »Und Clarice ebenfalls. Sie hat sich ganz gut gehalten dafür, dass sie aus einem behüteten Nest stammt, findest du nicht?«
Der Schuss ging fehl, soweit Magdalena es feststellen konnte. Fabio gab ihren Blick unbewegt zurück. »Sie und Ihre Schwestern haben sich gut gehalten, das ist mir aufgefallen«, sagte er. »Gute Nacht, Schwester Magdalena, und passen Sie auf sich auf.«
Verwirrt stapfte Magdalena weiter zum Rand des Dorfes. Jenseits der Grenze, die die letzten Häuser und ihre Gartenparzellen bildeten, war die Nacht eine diffuse Wand, die nicht vollkommen schwarz war. Irgendwo auf dem Weg zur Kuppel des Himmels musste der Nebel zu Ende sein, und der Mond und die Sterne strahlten darauf hinab. Ein bisschen von dem Licht schien aus diesen oberen Sphären herabzusickern. Der Nachtnebel roch nach Flusswasser, nassem Gehölz und Schlamm.
Magdalena konnte nicht enträtseln, was das seltsame Verhalten der Wölfe dem Gefangenen gegenüber zu bedeuten hatte. Wenn Corto ihn auf der Stelle erschlagen lassen oder den Dörflern vorgeworfen hätte, wäre sie entsetzt gewesen, aber sie hätte es verstanden. Wenn er ihn am Feuer gefoltert hätte, um herauszubekommen, woher er und seine Männer stammten und wohin sie gewollt hätten, wäre sie angewidert gewesen, aber sie hätte es ebenfalls verstanden. So jedoch … Allein schon die Tatsache, dass der Überlebende zum Beispiel allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz auch noch bewacht wurde, war unerklärlich. Sie fragte sich, ob sie Corto mitteilen sollte, dass sie ahnte, schon zuvor Zeugin des Werks der Plünderer geworden zu sein, doch erst wollte sie sich Klarheit darüber verschaffen, was hier vorging. Sie, Radegundis und Immaculata waren Corto und seinen Männern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert – es erschien tröstlich, etwas zu wissen, das Corto unbekannt war und das womöglich wichtig sein konnte.
Etwas stahl sich in ihre Gedanken, etwas, das von außen kam und ihre Barrieren mühelos zu überwinden schien. Sie erkannte es sofort. Der Schwingung einer anderen Person war schwieriger zu folgen als einem Geräusch, doch sie wusste, sie würde hinfinden. Es war nicht einmal schwer. Sie fiel fast über Lorenzo, der völlig allein am Rand des Schilfwaldes auf dem Rücken lag, den Kopf auf den verschränkten Händen ruhend und dorthin starrend, wo irgendwo hinter der Nebeldecke das Firmament sein musste.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, hörte sie sich fragen, noch bevor ihr Herz überhaupt entschieden hatte, ihn anzusprechen.
»Der Boden ist feucht«, sagte er nach einer Weile.
Magdalena bauschte ihre Kutte und setzte sich dennoch. Ihr
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