Die Braut des Piraten
hindurch und winkte dem Mann dabei keck zu.
»Sollen wir zum Vordereingang?«, fragte Billy, als die Lichter des Hauses in Sicht kamen.
»Natürlich, du Einfaltspinsel!«, brummte Mike und stieß ihn an. »Was glaubst du, wen wir befördern?«
»Keine Ahnung. Niemand hat mir was gesagt«, murmelte Billy. »>Miss< war alles, was ich hörte.«
»Ja, und mehr brauchst du auch nicht zu wissen«, stellte Mike trotz des Widerspruchs klar.
»Der Vordereingang soll mir recht sein«, stimmte Olivia hastig zu, obwohl sie, bloßfüßig und notdürftig gekleidet, die Küchentür als angebrachter empfunden hätte.
Billy zügelte das Pferd vor dem Haupteingang. Die Fenster waren noch erleuchtet, doch wirkte das strohgedeckte Herrenhaus irgendwie verlassen, als hätte das tägliche Leben ausgesetzt. Mike sprang hinunter und reichte Olivia höflich seine Hand.
Sie trat auf den Kiesboden und stand eine Sekunde zögernd da – die Rolle der heimgekehrten verlorenen Tochter lag ihr so gar nicht. Doch dann reckte sie ihr Kinn und schritt zur Tür. Sie hob den Klopfer und ließ ihn gebieterisch und fest fallen.
Man hörte Schritte, Riegel wurden zurückgezogen, die Tür schwang auf. Vom Licht im Hintergrund der Halle angestrahlt, hoben sich die Umrisse des Butlers ab. Er starrte Olivia an, als hätte er ein Gespenst vor sich.
»Ja, Bisset, ich bin es.« Olivia betrat an ihm vorbei die Halle. »Wo ist Lady Granville?«
Sie hätte die Frage nicht zu stellen brauchen. Phoebe eilte die Treppe hinunter und rief: »Wer ist da, Bisset?«
»Ich bin es«, antwortete Olivia und rannte auf Phoebe zu, vom dringenden Verlangen nach dem Trost freundschaftlicher Umarmung und der Geborgenheit ihrer gewohnten Umgebung getrieben.
»Ach, Olivia! Wo warst du nur? Ich war vor Angst außer mir!« Phoebe, der Tränen der Erleichterung über die Wangen perlten, nahm sie in die Arme. »Was ist dir widerfahren?«
Olivia klammerte sich an sie. »Ist mein Vater da?«
»Nein, noch nicht. Phoebe trat zurück, um Olivia in die Augen zu sehen. »Wo hast du bloß gesteckt?«
Olivia fiel ein, dass Mike und Billy warteten, und sie dachte verbittert an die Ermahnung des Piraten, sie für ihre Mühe zu entlohnen – als ob sie nicht selbst gewusst hätte, wie sie sich denen gegenüber zu verhalten hatten, die ihr einen Dienst erwiesen.
»Das erkläre ich später, Phoebe. Jetzt muss ich diesen Menschen meine Dankbarkeit bezeugen. Sie haben sich rührend um mich gekümmert.« Sie deutete auf Mike, der sich aus dem Türeingang zurückgezogen hatte und verlegen im Schatten außerhalb des Lichtkreises stand.
Phoebe begriff sofort, was angebracht war. Auch sie brauchte man nicht eigens an die Pflichten einer Gutsherrin zu erinnern. Ihre Neugier nur mühsam zügelnd ging sie an die Tür. »Bitte, tretet kurz ein.«
Bisset sah aus, als würde es ihm die Luft abschnüren, doch trat er beiseite, um dem zögernden Mike Einlass zu gewähren.
Mike verbeugte sich linkisch. »Mike Barker, Madam.«
Phoebe hieß ihn freundlich willkommen und winkte Olivia. Sie holte den Schüssel zu Catos Kassette aus der Rocktasche, während sie, gefolgt von Olivia, ins Arbeitszimmer ihres Mannes lief.
»Was sollen sie bekommen?«, fragte Phoebe, als sie die Kassette öffnete. »Da ich nicht weiß, was vorging, kann ich nicht…«
»Fünf Guineen«, unterbrach Olivia sie. Sie spürte die Ungeduld ihrer Freundin und wusste, dass Phoebe sich kaum zügeln konnte.
Phoebe reichte Olivia fünf Goldmünzen, die sie wortlos nahm und damit in die Halle zurückeilte.
»Mike, bitte sagt Euer Familie Dank für alles. Ich weiß, dass mein Vater bei seiner Rückkehr sehr erleichtert sein wird. Bitte, gebt dies Eurer Mutter. Es wird mithelfen, die Arzneien zu bezahlen.«
»Ach ja«, murmelte Mike und starrte die blinkenden Münzen in seiner Hand an. Eine großzügige Summe dafür, dass er eine Geschichte erzählt und einen Karren zur Verfügung gestellt hatte. Aber der Herr bezahlte stets für Dienste, die er erbat, und es gab zu Hause viele Münder zu stopfen. Mike versenkte die Münzen in seiner Tasche.
Billy hatte sich in die offene Tür gewagt und spähte nun mit großen Augen in die Halle mit den Eichendielen und dem schimmernden Messing und Zinn. Auf dem Rost des massiven Kamins, der eine ganze Wand einnahm, sah man an Stelle der Holzscheite einen Krug mit duftenden Levkojen und Ringelblumen. Eine breite Treppe mit kunstvoll geschnitztem Geländer schwang sich im Hintergrund nach oben.
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