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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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durchschnitt und damit der Tod ihrer Tochter besiegelt war? Das durfte nicht geschehen! Setzte sie nicht das Leben Hawisias aufs Spiel mit dem zweifelhaften Rettungsplan? Trug sie nicht die Verantwortung?
    Sie würde lügen müssen, um Sir Latimer in Sicherheit zu wiegen. Andernfalls war die Sache schon entschieden, er würde leben, Hawisia würde sterben. Das durfte nicht sein! Ihre Tochter! Konnte man ihr denn Vorwürfe machen, wenn |345| sie Hawisia rettete, sie, die Mutter? Würde nicht jede Mutter so handeln? Es herrschte Krieg. Braybrooke wurde belagert. Bei solchen Gelegenheiten starben Menschen. Es war nicht ihre Schuld, wenn Thomas Latimer umkam.
    Sie mußte ihn zum Fenster locken.
    Handelte nicht Courtenay durch sie? Es war Courtenays Mord, sie war nur das Werkzeug, willenlos gemacht, weil sie zwischen Tod und Tod zu wählen hatte. Thomas war älter, er hatte gute vierzig Jahre gelebt, vielleicht mehr. Hawisia aber hatte noch ein Menschenleben vor sich. Eine Entscheidung, nichts weiter. Kurzes Lebensstück gegen vollständiges Leben. Ein sinnvoller Tausch.
    Und womöglich würde Thomas Latimer auf dem Schlachtfeld umkommen, wenn sie ihn heute verschonte. Dann starb Hawisia umsonst. Wie sollte sie sich das jemals vergeben? Nein, es ging nicht anders, der Ritter mußte jetzt sterben.
    Sie traten in sein Gemach. Es war sonderbar verändert: Aus dem hellen Herrenzimmer war eine Höhle geworden. Dicke Felle hingen vor den Fenstern und sperrten das Licht aus. Fackeln lohten. Zwischen den Jagdhunden und dem Reh an der Wand spielten schwarze Geister, gekrümmte, sich verrenkende Gestalten. Sie sprangen über die Wände.
    Dicke, heiße Luft drückte den Atem. Auf der Bank beim Kamin stand ein Tablett mit Brot, einer Eierspeise, einigen Pasteten. Die Geister hatten das Essen verschmäht, es fehlte kein Bissen.
    Thomas schloß die Tür. Er schnallte sich das große Schwert vom Rücken und lehnte es an die Wand. Sein Gesicht kerbten zwei Furchen von den Nasenflügeln zum Kinnbart, er sah müde aus. »Warum schickt Courtenay dich zurück?«
    »Ich habe ihm nicht geglaubt. Er will, daß ich Euch befrage und einsehe, daß Ihr ein Ketzer seid.«
    »Ich bin ein Ketzer.«
    »Aber das Gebet …?« Sie schüttelte den Kopf. »Ihr seid ein Mann Gottes.«
    »Das schließt sich nicht aus: Ketzer und Mann Gottes.«
    |346| Catherine sah ihn an. Diesen Ritter sollte sie ermorden. In seinen hellen, harten Augen glänzte das Fackellicht. Diesen Ritter. Thomas.
    »Was sollst du noch tun? Mich töten?«
    Sie griff sich an den Hals, schluckte. Sah er ihre Gedanken? Wenn es einem Menschen zuzutrauen war, dann dem Ritter Sir Thomas Latimer.
    Er preßte die Lippen aufeinander und nickte. »Gut, daß er dich falsch eingeschätzt hat. Es hat dir das Leben gerettet.«
    Damit war es für ihn erledigt? Er glaubte nicht, daß sie fähig wäre, ihn umzubringen? Er dachte, daß sie bereit war, für ihn Hawisia zu opfern? Nun, da hatte er sich getäuscht! Er hält dich für besser, als du bist, schoß es ihr durch den Kopf. Er sieht das Gute in dir, in seinen Augen bist du rechtschaffen und stark. War das nicht Ehre, die er ihr gab? Er vertraute ihr.
    »Werden die Dörfler Hilfe holen?«
    »Sie sind eingekreist. Sie haben es versucht, aber es ist kein Durchbruch möglich.«
    Er preßte sich die Faust gegen die Stirn und lief im Zimmer auf und ab. »Wir können nicht ewig standhalten. Wenn Nevill uns nicht zu Hilfe eilt, wird Braybrooke fallen.«
    Braybrooke! Wen kümmerte Braybrooke! Ihre Tochter würde sterben. Ihre Tochter! »Meine Tochter wird sterben. Was kümmert mich Braybrooke? Was geht mich eine Burg an, eine läppische Burg, ein paar Karpfenteiche, Türme? Hawisia ist keine zwei Monate alt. Courtenay wird ihr …« Sie fing an zu zittern, am ganzen Leib zitterte sie. Hör auf zu zittern! befahl sie sich. Sei stark! Aber sie zitterte. Die Haare fielen ihr in die Stirn. Der Mund verzog sich, die Zähne klapperten aufeinander. Die Hände krampften sich zu Fäusten, die Arme schüttelten gegen ihre Brust.
    Eine Hand berührte ihre Stirn. Thomas. Er stand nahe, sehr nahe. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Er streichelte ihre Wange. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir leid.«
    »Was nützt das«, stieß sie hervor. »Sie wird sterben!«
    |347| Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und hielt es mit sanfter Kraft. Die Wärme seiner Hände floß den Hals hinunter, sie floß in die Brust, in den Bauch. Das Schütteln legte sich.

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