Die Bruderschaft der Woelfe
den Wert des Lebens anderer bemessen? Wie kann ich den einen Erwählen, den anderen dagegen nicht?«
»Das Erwählen ist nicht schwer«, erwiderte Binnesman.
»Jemanden nicht zu Erwählen macht Euch zu schaffen.«
»Aber wie kann ich das Leben von anderen bemessen?«
»Ihr habt mir immer wieder bewiesen, für wie wertvoll Ihr das Leben erachtet«, antwortete Binnesman. »Ihr schätzt die meisten Menschen mehr als sie sich selbst.«
»Nein«, widersprach Gaborn. »Mein Volk liebt das Leben.«
»Schon möglich«, meinte Binnesman. »Doch ebenso, wie Ihr versucht, Eure schwächeren Untertanen mit Eurem eigenen Leben zu beschützen, so würde auch jeder Mann in dieser Truppe« – er deutete mit einem Nicken auf die Ritter, die hinter ihnen aufschlossen – »sein Leben für den anderen geben.«
Er hatte recht. Gaborn wäre gern bereit, sich im Dienst für andere zu opfern. Im Kampf würde er für sie eines edlen Todes sterben, in Friedenszeiten hart und ehrlich für sie arbeiten.
»Was bekümmert Euch wirklich?« fragte Binnesman.
Gaborn senkte den Kopf und flüsterte: »Die Erde hat mich im Traum aufgesucht und gedroht, mich zu bestrafen. Sie hat mir dringend geraten, die Samen der Menschheit zu Erwählen und sonst nichts.«
Jetzt richtete Binnesman sein ganzes Augenmerk auf Gaborn und legte in offenkundigem Entsetzen die Stirn in Falten. Der Erdwächter rückte näher an ihn heran. »Seid achtsam, mein Lord. Wenn die Erde im Traum zu Euch spricht, dann nur, weil Ihr zu beschäftigt seid, im Wachzustand auf sie zu hören.
Und nun erklärt mir genau: Wovor hat die Erde Euch
gewarnt?«
»Davor… zu viele zu Erwählen«, antwortete Gaborn, und ihm war, als würde ihn seine eigene Schande ersticken. »Die Erde erschien in Gestalt meines toten Vaters und warnte mich, ich müsse lernen, den Tod zu akzeptieren.«
Gaborn getraute sich nicht einzugestehen, daß er den Tod seines Vaters noch nicht verwunden hatte. Die Erde verlangte etwas Unmögliches von ihm.
Die Erde hatte ihn gedrängt, seine Wahl zu beschränken, nur die besten Samen der Menschheit zu Erwählen und durch die dunkle Zeit zu bringen.
Aber welche waren die besten?
Jene, die er am meisten liebte? Nicht immer.
Jene, die in der Welt am meisten bewegten? War ein Schmied von höherem Wert als ein Bäcker? Galt die Liebe einer Bauersfrau zu ihrem Kind weniger als die Liebe der Königin zu ihren Untertanen?
Sollte er jene Erwählen, die am besten kämpfen konnten, da sie sein Volk am wirksamsten verteidigten?
Wie konnte Gaborn das Leben eines Menschen bewerten? Er hatte in die Herzen vieler geschaut, und nun erschien ihm die Gabe des Erdblicks eher wie eine Bürde denn wie eine Gnade.
Er hatte in die Herzen der Menschen geschaut, und er wußte, alte Männer hingen viel mehr an ihrem Leben als Jünglinge, die besser auf sich aufpassen sollten.
Er hatte selten den Mut entdeckt, den er sich wünschte. Die besten Soldaten, diejenigen, die er sich am meisten als Krieger erhoffte, schätzten das Leben oft zuwenig. Manche waren brutale Naturen, die Blut und Gewalt liebten. Zu selten nahmen Tugendhafte das Schwert in die Hand.
Und viel, viel zu oft hatte Gaborn das, was er in den Herzen sah, kaum ertragen können, zuletzt bei König Lowicker.
Konnte er sich also von den Einfachen abwenden, die das Leben verdienten, aber wenig zu bieten hatten – Kinder und klumpfüßige Jungen und Großmütter, die dem Tode nahe waren?
Feierlich flüsterte Binnesman ihm zu: »Ihr schwebt in großer Gefahr, mein Lord. Die der Erde dienen, müssen sich ihr vollständig hingeben. Falls Ihr der Erde nicht dient, wird sie Euch Eure Macht entziehen.«
Der Zauberer betrachtete Gaborn eine Weile lang
stirnrunzelnd. »Vielleicht liegt die Schuld auch bei mir«, räumte er ein. »Als Ihr die Kraft des Erwählens erlangt habt, riet ich Euch, großzügig zu sein. Die Erde jedoch verlangt von Euch Genauigkeit. Möglicherweise müßt Ihr einige der Erwählten aufgeben… Ist es das, was Ihr spürt?«
Gaborn schloß die Augen und biß die Zähne zusammen. In diesem Augenblick konnte er den Tod nicht akzeptieren.
»Mein Lord!« rief Sir Langley und deutete hinauf zur Kuppe eines runden Hügels ein paar hundert Meter weiter südlich.
Dort stieg brauner Dampf über den Feldern auf und kroch im Schrittempo wie ein Buschfeuer über die Hänge. Doch loderten keine Flammen, die diesen eigentümlichen Rauch hätten hervorrufen können.
Statt dessen verwelkten die Gräser und
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