Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
konnte man nicht wissen, was morgen oder übermorgen sein würde. Dass Norwegen auf Deutschlands Seite stand, hielt Oscar für selbstverständlich. Falls Norwegen also in den Krieg eintrat, dann aufseiten Deutschlands. Befand er sich zu diesem Zeitpunkt auf Sansibar, kam er dort nicht mehr weg.
Nein, das war zu riskant. Außerdem sagten alle, der Krieg würde nicht lange dauern und wäre spätestens Weihnachten vorbei. Mohamadali pflichtete ihm schließlich bei. Nach dem Krieg würde Sansibar vielleicht in deutschen Besitz übergehen, dann könne Oscar trotzdem auf diesem Weg nach Hause reisen, sodass sie ein weiteres Abschiedsfest feiern könnten.
Am nächsten Morgen verabschiedeten sie sich am Hafen
von Bagamoyo am letzten Schiff der Firma voneinander, das nach Sansibar segeln würde. Sie umarmten sich lange. In Bagamoyo, der alten Hafenstadt, von der aus früher die Sklaven verschifft worden waren, gab es keine Deutschen, die daran hätten Anstoß nehmen können, dass sich zwei Männer umarmten und unter Tränen Abschied nahmen.
In dieser Nacht war Vollmond, und Oscar zog es vor, mit den Pferden nach Dar zurückzureiten, ohne ein weiteres Nachtlager aufzuschlagen. Der Sternenhimmel wölbte sich riesig und funkelnd über ihm, und es war fast vollkommen still. Unvorstellbar, dass sich die Welt im Krieg befand. Wenn er in Dar eintraf, würde der Morgen des dritten Kriegstages anbrechen. Er würde sich überlegen müssen, was er jetzt tun sollte. Sich auf die Terrasse seines Hauses setzen, aufs Meer schauen und auf das Ende des Krieges warten? Dann mit einigen Monaten Verspätung nach Hause reisen? Wahrscheinlich. Sich als Freiwilliger zu melden kam nicht infrage. Wenn der Krieg Norwegen nichts anging, dann ging er auch ihn nichts an.
Kurz nachdem die Sonne rot aus dem Meer aufgestiegen war, näherte er sich der Stadt, die wie jedes Mal einen atemberaubenden Anblick bot. Eine leichte, kühlende Brise wehte von Südost. Am Horizont waren die Silhouetten von zwei Schiffen zu erkennen, die wie Kriegsschiffe aussahen, niedriger als Frachter und mit hohen Aufbauten mittschiffs. Er grübelte nicht weiter darüber nach, was das bedeuten könnte. Dort draußen herrschte die englische Flotte, das gab sogar die deutsche Militärführung zu. Aber zwei klägliche Kriegsschiffe konnten doch wohl kaum eine große Stadt wie Dar einnehmen? Er vermutete, dass es
mehr darum ging, sich zu zeigen, vorbeizufahren und zu drohen, um an die englische Vormacht auf den Weltmeeren zu erinnern.
Als er an Kokosplantagen vorbei von Norden auf die Stadt zuritt, näherten sich die Kriegsschiffe der Stadt und bezogen mit der Breitseite vor ihr Stellung. So konnte er auch die weiße englische Kriegsflagge deutlich am Heck erkennen.
Er war so ahnungslos und unvorbereitet, dass er nicht einmal, als er das Mündungsfeuer und die weißen Rauchwölkchen sah, verstand, was eigentlich geschah. Erst Sekunden später, als ihn die Druckwelle und der Lärm erreichten, begriff er. Nach einigen weiteren Sekunden bebte die ganze Stadt von Explosionen.
Er hielt seine verschreckten Pferde an und spürte gleichzeitig die Druckwellen weiterer Salven. Es war wie ein Kurzschluss in seinem Kopf, das Schauspiel war viel zu grauenvoll, als dass sein Gehirn akzeptieren wollte, was die Augen meldeten. Das war nicht wahr, das durfte nicht wahr sein.
Weiter oben in der Stadt, beim Radiosender, sah er Flammen und heftige Explosionen. Als die drei Sendemasten zusammengebrochen waren und das Feuer sich ausbreitete, fingen die Engländer an, auf ein anderes Ziel zu schießen, das er nicht sehen konnte, vermutlich den Bahnhof oder das Deutsche Haus. Bald brachen neue heftige Brände aus, und schwarzer Rauch legte sich über die Stadt. Die Engländer feuerten eine Salve nach der anderen ab und suchten sich das nächste Ziel. Jetzt beschossen sie den Hafen. Das schonungslose Feuer ging immer weiter. Er hörte ferne Schreie von Menschen in Panik, während die Flammen
an drei verschiedenen Plätzen immer höher in den hellen Morgenhimmel züngelten.
Er saß mit angezogenen Zügeln wie gelähmt da und versuchte durch mechanisches Tätscheln sein Pferd zu beruhigen, solange das Artilleriefeuer andauerte. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Oder vielleicht doch? Aber er war wie paralysiert. Er sah das Schauspiel wie in einem Traum, ohne zu begreifen, dass das der Krieg war. Die englische Flotte überfiel eine Stadt, die sich nicht verteidigen konnte. Warum, war unbegreiflich.
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