Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Swahili vorsagte, um die abendliche Unterrichtsstunde mit Hassan Heinrich zu rekapitulieren.
Er sah den Fjord vor sich, jede Landzunge, die Wiesen an den Hängen, die weißen Nachbarhäuser und die vereinzelten
Segel draußen auf dem dunkelblauen Wasser, Freunde, Verwandte oder zumindest Bekannte auf dem Weg, um Skrei zu fangen, den laichenden Kabeljau, der einen besonders hohen Preis erzielte. Vielleicht segelten sie auch nach Bergen, um einen großen Fang zu verkaufen.
Ein überwältigendes Gefühl der Unwirklichkeit befiel ihn. Dort, am Fjord oder in Bergen, hätte er sich jetzt eigentlich befinden sollen. Stattdessen saß er in Afrika, an dem Punkt, an dem die Zivilisation endete, an dem die nächste Brücke errichtet werden sollte. Am anderen Ufer des ausgetrockneten Flusses lag das dunkle Afrika. Langsam, aber unaufhörlich kämpfte sich die Eisenbahn voran, durch meilenweite Malariasümpfe und Wüsten, sie überwand scheinbar undurchdringliches Gebüsch und undurchdringliche Wälder.
Sein Leben war also nicht ganz verfehlt. Er war ein Zahnrad in einer gigantischen Maschinerie, die den ganzen dunklen Kontinent der Zivilisation erschließen würde, eine historische Aufgabe unvorstellbaren Ausmaßes.
Auf persönlicher Ebene allerdings war sein Leben ganz klar verfehlt. Außerdem war er ein Verräter.
Eigentlich hätte er jetzt zusammen mit seinen Brüdern die Eisenbahnlinie zwischen Kristiania und Bergen bauen sollen. Auch dort mangelte es sicher nicht an Herausforderungen, einige Brücken auf der Hardangervidda waren mindestens so kompliziert wie die, an denen er gerade arbeitete. Die Herausforderungen dort oben, zehntausend Kilometer weiter nördlich, waren Schnee, Eis und starke Winde und nicht launische, reißende Flüsse oder Löwen, die Menschen fraßen, weiße vermutlich mit demselben Appetit wie schwarze.
Der Löwe. Simba.
Plötzlich befand er sich wieder in der Wirklichkeit, die jetzt kohlschwarz war. Er sah kaum die Hand vor Augen. Es war vollkommen still, sowohl im Wald als auch im Lager. Kadimba saß nur zehn Meter entfernt in derselben Position wie er auf dem anderen Eisenbahnwaggon, aber sie konnten sich nicht verständigen, nicht einmal flüsternd. Löwen hörten das Flüstern der Menschen, als würde man aus vollem Hals schreien, hatte Kadimba gesagt.
Die Feuer vor den Schutzwällen aus stacheligen Büschen glommen nur noch. Er hatte vollstes Verständnis dafür, dass keiner in die schwarze Nacht hinausschleichen wollte, um Holz nachzulegen. Aber das bedeutete auch, dass er bald praktisch blind und nur auf sein Gehör angewiesen sein würde. Er hatte zwar nicht so viel Schießerfahrung wie einige der alten Veteranen aus dem törichten, aber vermutlich auch letzten Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, die mit gewichsten Knebelbärten preußisch-streng die Dresdner Scharfschützen kommandiert hatten. Andererseits war er aber auch nicht so taub wie die meisten von ihnen.
Aber das Gehör des Menschen war nichts verglichen mit dem der wilden Tiere Afrikas. Und die großen weichen Tatzen Simbas auf der feuchten roten Erde des Lagers waren für seine Ohren nicht zu hören.
Kadimba und er saßen in nur drei Metern Höhe ohne Rückendeckung da. Konnten Löwen so hoch springen? Vermutlich.
Vor der nächsten Nacht mussten sie Vorkehrungen treffen und ein Alarmsystem installieren. Sie könnten beispielsweise hinter den Waggons dünne Drähte spannen
und leere Konservendosen daran befestigen. Die brillante Lösung eines findigen Ingenieurs, die leider zu spät kam, wie er sich mit Galgenhumor aufzumuntern versuchte.
Es herrschte vollkommene Stille und vollkommene Finsternis, ein paar nachzüglerische Regenzeitwolken verdeckten den Sternenhimmel. Außerdem war abnehmender Mond. Kadimba und er waren in diesem Augenblick definitiv die einzig sichtbare Beute im Lager, zwei Lockvögel sozusagen.
Oscar dachte sich noch weitere Sicherheitsvorkehrungen aus, die sich aber auch allesamt nicht mehr realisieren ließen.
Offenbar war er eingeschlummert, nachdem er einige Stunden abwechselnd über Verbesserungen des Hinterhalts nachgedacht und seine Todesangst zu bezwingen versucht hatte.
Plötzlich waren aus dem hinteren Teil des Lagers Schreie und lautes Klappern von Kochgeschirr zu hören, dazu das Gebrüll eines wilden, sehr großen Tieres. Bald waren die herumirrenden Lichter von Fackeln zu sehen, und das aufgeregte Geschnatter der Eingeborenen stieg zum Nachthimmel empor. Ein Schrei, der
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