Die Bücher und das Paradies
Rezeptionssoziologie.
Man müßte zum Beispiel sagen, daß der Qualitäts-
bestseller nicht vom Projekt einer Poetik abhängt, sondern
von einer Veränderung in den Neigungen des Lese-
publikums; denn einerseits unterschätze man nicht das
Aufkommen einer Kategorie von »naiven« Lesern, die
gesättigt mit »leichten« und problemlos konsumierbaren
259
Texten den Reiz von Werken entdecken, die sie zu einer
zwar anspruchsvolleren, aber in gewisser Weise auch
lohnenderen Erfahrung herausfordern, für die sie dann
sogar zu mehrmaliger Lektüre bereit sind, und andererseits
haben viele Leser, die von den Verlagen noch immer als
»naiv« angesehen werden, auf verschiedenen Wegen
längst vieles von den Techniken der modernen Literatur
absorbiert und fühlen sich daher angesichts von
Qualitätsbestsellern weniger verunsichert als manche
Literatursoziologen.
In diesem Sinne wäre der Qualitätsbestseller als
Phänomen so alt wie die Welt. Ein Qualitätsbestseller war
ohne Zweifel die Divina Commedia , wenn wir der
Legende glauben dürfen, nach welcher Dante den Schmied
bestrafte, der seine Verse schlecht sang (denn wenn er sie
wie schlecht auch immer sang, muß er sie ja gekannt
haben). Ein Qualitätsbestsellerautor war Shakespeare,
nach dem Massenpublikum zu urteilen, das ihm folgte,
auch wenn es vielleicht nicht alle seine Feinheiten und
seine Wiederverwendung älterer Texte mitbekam.
Qualitätsbestseller waren die Promessi Sposi , die mit ihrer bisweilen geradezu dokumentarisch-histonographischen
Vorgehensweise wenig Konzessionen an den Geschmack
derjenigen machten, die sich bis dahin mit populären
Ritter- und Schauerschmökern genährt hatten
– und
trotzdem ist der Roman in den ersten Jahren das Opfer
unzähliger Raubdrucke geworden, und Manzoni sah sich
gezwungen, dem Massengeschmack entgegenzukommen,
indem er persönlich die Illustrationen von Gonin für die
Ausgabe von 1840 überwachte. Wenn wir es recht
bedenken, sind Qualitätsbestseller all jene großen Werke
gewesen, die uns in vielen Handschriften und Druck-
ausgaben überkommen sind, auf der Welle eines Erfolgs,
der nicht nur die Leser der Elite berührt haben kann, von
260
der Aeneis bis zum Orlando furioso , von Don Quijote bis Pinocchio . Es handelt sich also keineswegs um außergewöhnliche Phänomene, sondern um solche, die in der
Geschichte der Kunst und der Literatur nicht selten vor-
kommen, auch wenn sie sich von Epoche zu Epoche
anders erklären lassen.
Erlauben Sie nun, um den Unterschied zwischen
Doppelkodierung und intertextueller Ironie zu erhellen,
ein Beispiel aus meiner eigenen Schreibpraxis zu bringen.
Der Name der Rose beginnt damit, daß berichtet wird, wie der Autor eine alte Handschrift gefunden hat. Man ist
sofort mitten im »Zitatismus«, denn der Topos der
(wieder)gefundenen Handschrift hat ein ehrwürdiges
Alter, und in direkter Konsequenz betritt man auch gleich
den Bereich der Doppelkodierung: Der Leser muß, will er
Zugang zu der erzählten Geschichte finden, einige
ziemlich gelehrte Reflexionen und eine Technik der
Metanarrativität hoch drei akzeptieren, denn der Autor
erfindet nicht nur aus dem Nichts einen Text, um mit ihm
in einen Dialog zu treten, sondern präsentiert diesen Text
auch noch als eine neugotisch-französische Version aus
dem 19. Jahrhundert eines lateinischen Originals vom
Ende des 14. Jahrhunderts. Der »naive« Leser kann die
nachfolgende Erzählung nicht genießen, wenn er das Spiel
dieser ineinandergeschachtelten Quellen nicht zuvor
akzeptiert hat, und dieses Spiel taucht die ganze
Geschichte in ein Ungewisses Zwielicht, weil die Quelle
nicht verläßlich erscheint.
Doch wie Sie sich vielleicht erinnern, steht vor den
Seiten, auf denen von dem Handschriftenfund berichtet
wird, der Titel: »Natürlich, eine alte Handschrift«. Dieses
»natürlich« hat mehrere Bedeutungsschichten, denn einer-
seits will es hervorheben, daß hier auf einen literarischen
Topos rekurriert wird, und andererseits läßt es eine »Angst
261
vor Einfluß« erkennen, denn es verweist (zumindest für
den italienischen Leser) auf Manzoni, der seinen Roman ja
angeblich einem Manuskript des 17. Jahrhunderts ent-
nommen hat. Wie viele Leser werden die diversen
ironischen Schichten dieses »natürlich« erfaßt haben
(können)? Und wird, wer sie nicht erfaßt hat, trotzdem
Zugang zum Rest der Geschichte finden, ohne daß ihm
allzuviel von ihrem Reiz entgeht?
Weitere Kostenlose Bücher