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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Rezeptionssoziologie.
    Man müßte zum Beispiel sagen, daß der Qualitäts-
    bestseller nicht vom Projekt einer Poetik abhängt, sondern
    von einer Veränderung in den Neigungen des Lese-
    publikums; denn einerseits unterschätze man nicht das
    Aufkommen einer Kategorie von »naiven« Lesern, die
    gesättigt mit »leichten« und problemlos konsumierbaren
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    Texten den Reiz von Werken entdecken, die sie zu einer
    zwar anspruchsvolleren, aber in gewisser Weise auch
    lohnenderen Erfahrung herausfordern, für die sie dann
    sogar zu mehrmaliger Lektüre bereit sind, und andererseits
    haben viele Leser, die von den Verlagen noch immer als
    »naiv« angesehen werden, auf verschiedenen Wegen
    längst vieles von den Techniken der modernen Literatur
    absorbiert und fühlen sich daher angesichts von
    Qualitätsbestsellern weniger verunsichert als manche
    Literatursoziologen.
    In diesem Sinne wäre der Qualitätsbestseller als
    Phänomen so alt wie die Welt. Ein Qualitätsbestseller war
    ohne Zweifel die Divina Commedia , wenn wir der
    Legende glauben dürfen, nach welcher Dante den Schmied
    bestrafte, der seine Verse schlecht sang (denn wenn er sie
    wie schlecht auch immer sang, muß er sie ja gekannt
    haben). Ein Qualitätsbestsellerautor war Shakespeare,
    nach dem Massenpublikum zu urteilen, das ihm folgte,
    auch wenn es vielleicht nicht alle seine Feinheiten und
    seine Wiederverwendung älterer Texte mitbekam.
    Qualitätsbestseller waren die Promessi Sposi , die mit ihrer bisweilen geradezu dokumentarisch-histonographischen
    Vorgehensweise wenig Konzessionen an den Geschmack
    derjenigen machten, die sich bis dahin mit populären
    Ritter- und Schauerschmökern genährt hatten
    – und
    trotzdem ist der Roman in den ersten Jahren das Opfer
    unzähliger Raubdrucke geworden, und Manzoni sah sich
    gezwungen, dem Massengeschmack entgegenzukommen,
    indem er persönlich die Illustrationen von Gonin für die
    Ausgabe von 1840 überwachte. Wenn wir es recht
    bedenken, sind Qualitätsbestseller all jene großen Werke
    gewesen, die uns in vielen Handschriften und Druck-
    ausgaben überkommen sind, auf der Welle eines Erfolgs,
    der nicht nur die Leser der Elite berührt haben kann, von
    260
    der Aeneis bis zum Orlando furioso , von Don Quijote bis Pinocchio . Es handelt sich also keineswegs um außergewöhnliche Phänomene, sondern um solche, die in der
    Geschichte der Kunst und der Literatur nicht selten vor-
    kommen, auch wenn sie sich von Epoche zu Epoche
    anders erklären lassen.
    Erlauben Sie nun, um den Unterschied zwischen
    Doppelkodierung und intertextueller Ironie zu erhellen,
    ein Beispiel aus meiner eigenen Schreibpraxis zu bringen.
    Der Name der Rose beginnt damit, daß berichtet wird, wie der Autor eine alte Handschrift gefunden hat. Man ist
    sofort mitten im »Zitatismus«, denn der Topos der
    (wieder)gefundenen Handschrift hat ein ehrwürdiges
    Alter, und in direkter Konsequenz betritt man auch gleich
    den Bereich der Doppelkodierung: Der Leser muß, will er
    Zugang zu der erzählten Geschichte finden, einige
    ziemlich gelehrte Reflexionen und eine Technik der
    Metanarrativität hoch drei akzeptieren, denn der Autor
    erfindet nicht nur aus dem Nichts einen Text, um mit ihm
    in einen Dialog zu treten, sondern präsentiert diesen Text
    auch noch als eine neugotisch-französische Version aus
    dem 19. Jahrhundert eines lateinischen Originals vom
    Ende des 14. Jahrhunderts. Der »naive« Leser kann die
    nachfolgende Erzählung nicht genießen, wenn er das Spiel
    dieser ineinandergeschachtelten Quellen nicht zuvor
    akzeptiert hat, und dieses Spiel taucht die ganze
    Geschichte in ein Ungewisses Zwielicht, weil die Quelle
    nicht verläßlich erscheint.
    Doch wie Sie sich vielleicht erinnern, steht vor den
    Seiten, auf denen von dem Handschriftenfund berichtet
    wird, der Titel: »Natürlich, eine alte Handschrift«. Dieses
    »natürlich« hat mehrere Bedeutungsschichten, denn einer-
    seits will es hervorheben, daß hier auf einen literarischen
    Topos rekurriert wird, und andererseits läßt es eine »Angst
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    vor Einfluß« erkennen, denn es verweist (zumindest für
    den italienischen Leser) auf Manzoni, der seinen Roman ja
    angeblich einem Manuskript des 17. Jahrhunderts ent-
    nommen hat. Wie viele Leser werden die diversen
    ironischen Schichten dieses »natürlich« erfaßt haben
    (können)? Und wird, wer sie nicht erfaßt hat, trotzdem
    Zugang zum Rest der Geschichte finden, ohne daß ihm
    allzuviel von ihrem Reiz entgeht?

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